Radiomachen - oder: Ein Lernen ohne Belehrung (2012)

Erfahrungsbericht aus elf Jahren Unterrichtspraxis von Helmut Hostnig, Wien

Als ich mit meinen SchülerInnen auf einer Tonbandmaschine die ersten Aufnahmen machte, wurden meine kühnsten Erwartungen, die ich mir vom Einsatz des Mediums Radio an unserer Schule machte, übertroffen.

"Wenn alle schweigen, einer spricht, so nennt man dieses Unterricht."

Kinder haben auch heute noch die Rolle derjenigen inne, die Fragen stellen und von den Erwachsenen belehrt sein wollen. "Wenn alle schweigen, einer spricht, so nennt man dieses Unterricht." – Dieser Satz bringt dieses Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem oder zwischen Lehrer und Schüler noch immer persiflierend auf den Punkt bringt. Dass Kinder etwas zu sagen haben, dass auch sie eine Stimme haben, die gehört und ernst genommen sein will, wird von uns, die wir doch selbst auch einmal Kinder waren, ebenso vergessen oder vielmehr verdrängt, wie die Ängste, Unsicherheiten und Fantasien, die uns durch die Pubertät begleitet haben.

Ich will hier nicht der Frage nachgehen, warum das so ist, sondern vielmehr an Beispielen aus der Praxis den Beweis führen, wie mithilfe einfach zu bedienender Medien – Mikrofon und Aufnahmegerät – Kindern und Jugendlichen das Wort erteilt, das "Sagen" und die Stimme zurückgegeben werden können, die viele von ihnen – das zeigt auch deren zunehmende Gewaltbereitschaft – verloren zu haben scheinen.

"Sie wissen gar nicht, wie mir das damals geholfen hat..."

Wir schreiben das Jahr 1995, kurz vor dem Friedensabkommen von Dayton. Noch immer tobt im ehemaligen Jugoslawien ein furchtbarer Krieg. Vor mir sitzen traumatisierte SchülerInnen, die mit und ohne ihre Eltern zu Verwandten nach Österreich geflohen sind. Amina spricht kein Deutsch. Sie kommt aus Bosnien. Das ist alles, was ich von ihr weiß. Mitten im Unterricht beginnt sie zu weinen. Ich frage sie, was denn los sei? Sie wird von Weinkrämpfen geschüttelt und läuft aus der Klasse. Ich bitte ihre Freundin, mir die Situation zu erklären. Sie kann mir aber nicht sagen, warum Amina weint. Und wenn sie es aufschreibt? Ja, auch in ihrer Sprache. Sie nickt. Am nächsten Tag bekomme ich vier eng beschriebene Seiten. Ihre Freundin, auch aus den Kriegsgebieten geflohen und schon länger in Wien, hat alles – so gut sie es eben konnte – übersetzt.

Es ist ein erschütternder Brief, nein, der dramatische Augenzeugenbericht einer Dreizehnjährigen, die mit ansehen musste, wie ihre Tante vergewaltigt und ermordet wurde, die sich zehn Tage lang versteckt hielt, der eine filmreife Flucht durch die feindlichen Linien gelang und über einen Sender erfuhr, dass ihre Eltern sie suchten. In einer Freistunde ließ ich sie den Text vom Blatt lesen, speicherte die Aufnahme auf einer Tonbandkassette und spielte sie in der nächsten Deutschstunde kommentarlos der Klasse vor. Es war eine Sternstunde, wie sie LehrerInnen im Schulalltag nur selten erleben.

Jahre später traf ich Amina zufällig in der Straßenbahn. Sie hatte in der Zwischenzeit erfolgreich eine Lehre als Zahnarztassistentin abgeschlossen und meinte: "Sie wissen gar nicht, wie mir das damals geholfen hat, das erste Mal darüber wenigstens schreiben zu können und dann, nachdem Sie es abgespielt hatten, von MitschülerInnen zu erfahren, was sie durchgemacht haben, und festzustellen, dass ich nicht allein war."

Es sollte nicht bei dieser Sternstunde bleiben. Immer wieder werde ich überrascht, was mit dem Medium Radio bei den SchülerInnen erreicht werden kann und mit welcher Ernsthaftigkeit die Kinder, ganz unabhängig von der Schulstufe, dabei sind. Dass Radiomachen mit SchülerInnen nicht nur eine therapeutische Wirkung haben, sondern auch zu Verhaltensänderungen ganzer Schulklassen gegenüber Außenseitern führen kann, ist ebenfalls für mich fast schon ein zwingender Grund, sich mit diesem Medium auseinanderzusetzen. Dazu ein anderes Beispiel:

"Wenn Sie wüssten, wie es mir geht, würden Sie nicht so sein zu mir."

Ich hatte unter Protest der SchülerInnen einen Schüler mit Sprechbehinderung aus der Integrationsklasse in die Gruppe aufgenommen. Um Außenseitertum nicht nur in meiner Deutschklasse, sondern auch in meiner Radiogruppe zu thematisieren, schlug ich vor, das portugiesische Volksmärchen "Der Prinz mit den Eselsohren" als Hörspiel umzuschreiben und den Gegebenheiten von heute anzupassen. Natürlich wollte jeder den Prinzen spielen und die Mädchen monierten: Warum kann es nicht auch eine Prinzessin sein? Dass ich an Dominik dachte, der die Eselsohren hörbar machen sollte, schien ihnen so abwegig, dass weder er sich selbst noch sie ihn ins Spiel brachten. Also griff ich zu einer Finte: Jeder von ihnen sollte einmal den Prinzen spielen und wir würden dann gemeinsam und demokratisch entscheiden, wer es am besten macht.

Wer glaubt mir, wenn ich behaupte, dass SchülerInnen sich selbst gegenüber am kritischsten sind und gerne demjenigen den Vorrang einräumen, der es besser kann – auch weil sie wissen, dass davon der Erfolg einer Sendung abhängt?

Jeder also hatte ein Casting zu absolvieren. Der Streit aber wollte kein Ende nehmen. In der Zwischenzeit hatte ich Dominik ins schuleigene Studio gebeten und ihm gesagt, dass er für mich der "Prinz" und der Favorit für die Rolle sei. Ich bat ihm, mir zu erzählen, welche Erfahrungen er mit seiner Sprechbehinderung im Alltag mache und drückte den Aufnahmeknopf. Er erzählte von seiner Schwester, die sich für ihn schäme, von den Mitschülern, die ihn hänseln und auslachen würden, wenn er den Mund aufmacht, und dass er manchmal daran denke, sich lieber umzubringen, als so leben zu müssen.

Das kam aus dem Bauch, stotternd, bitter und anklagend, mit einer Stimme, die selbst mir den Schauer über den Rücken laufen ließ. Ich wusste nicht, wie viel Bitterkeit sich in ihm sich schon angestaut hatte. Ich bangte um die Aufnahme. Würde er mir erlauben, sie den anderen vorzuspielen? Da erlöste er mich mit den Worten: "Dadadas sollen sie nnur hören. Wwwenn sie wwüssten, wwie es mir geht, wwürden sie nnicht so sein zu mir." Ich hatte gewonnen. Auch die Schüler, die ihn belächelt, ignoriert oder offen verspottet hatten, indem sie ihn nachäfften, waren still.

Dominik war unser Prinz. Die Dramatisierung des Märchens ging flott voran. Die Schüler schrieben sich ihre Rollen auf den Leib und erfanden noch fünf dazu, damit alle beschäftigt waren. Am letzten Schultag vor Weihnachten war Premiere. Über die Lautsprech-Anlage der Schule spielten wir das Hörspiel in seiner ganzen Länge ab. Dominik war der Star der Schule und hatte von nun an Ruhe. Und das Verblüffendste: Er hatte zwar noch immer Artikulationsschwierigkeiten, aber er stotterte nicht mehr.

Was lernen SchülerInnen, wenn sie Radio machen?

Mehrheitlich sind es SchülerInnen mit Problemen, notorische Störenfriede oder – um die blumigere Umschreibung für Verhaltensauffälligkeit zu benützen – Sorgenkinder, die den sanktions- und stressfreien Raum des schuleigenen Studios suchen und sich für die "Unverbindliche Übung" Radio anmelden. Sie tun sich oft schwer beim Schreiben und haben deshalb in beinahe allen Gegenständen nicht mehr zu kompensierende Defizite, sind aber dafür, was mündliches Erzählen, Entwickeln von Geschichten, Rhythmisieren von Silben und Lauten, Reproduzieren von Geräuschen, d.h. den kreativen Umgang mit Sprache betrifft, wesentlich geschickter.

Mit einem Satz: Sie erhalten jene Anerkennung und Bestätigung – und jeder kann irgendetwas besonders gut, die ihnen im Regelunterricht versagt bleibt. Was also lernen SchülerInnen, wenn sie an Radiosendungen arbeiten? Sie lernen, ohne es zu wissen, dass sie lernen, und sie sind dankbar, dass es in einem vom Schulstress befreiten Raum geschieht. Natürlich gibt es Konflikte und oft herrscht das pure Chaos. Beides aber muss ich als Lehrer zulassen können, denn nur so kann Kreativität entstehen. Sie verträgt sich nicht mit Disziplinierung. Irgendwann aber ist Schluss mit Lustig. Diesen Zeitpunkt abwarten zu können, stellt meine Geduld zwar auf harte Proben, doch sie wird mehr als belohnt.

"Als die NATO ohne Vorwarnung Belgrad bombardiert hat..."

Als nach dem Attentat auf das World-Trade-Center am 11. September 2001 vom Stadtschulrat eine Schweigeminute verordnet wurde, war Sanja, eine gebürtige Serbin, nicht bereit mitzumachen. Nach ihren Beweggründen befragt, gab sie zur Antwort: "Als die NATO ohne Vorwarnung Belgrad bombardiert hat, hat es auch keine Schweigeminute gegeben." Daraufhin entstand eine wilde Debatte über Schuld und Unschuld und darüber, was Kriegsgründe sind und was nicht. Ich nahm dies zum Anlass, eine Expertenrunde einzuberufen, die über 9/11 und seine Folgen diskutieren sollte. Das Ergebnis war und ist hörenswert, denn die SchülerInnen erwiesen sich tatsächlich als kundige und am Zeitgeschehen höchst interessierte ExpertInnen.

Ich ließ sie im Deutschunterricht Briefe abfassen, die sie an George W. Bush und Osama Bin Laden adressieren sollten. Ein Schüler, der in einer Band mitspielt, hat für die Sendung sogar ein Lied geschrieben, die Gitarre mitgebracht und es unter tobendem Applaus der MitschülerInnen vorgespielt. Wenn sie dann auf der Straße die Meinung von Passanten auf ihre brisanten Fragen eingeholt haben, sind alle Sendeelemente vorhanden. Die Sendung muss nur noch geschnitten und moderiert werden.

So ernst genommen lernen SchülerInnen, ein Thema von allen Seiten zu beleuchten, die richtigen Fragen zu stellen oder Frust zu bewältigen, wenn sie zum Beispiel Passanten interviewen wollen, die keine Zeit haben. Sie lernen sich selbst und ihre Stärken und Schwächen besser einzuschätzen, und sich so zu artikulieren, dass sie auch verstanden werden.

Wie finden wir Themen?

Die Themensuche dauert meist nicht lange. Themen ergeben sich aus Konflikten innerhalb der Schule oder innerhalb der Radiogruppe. Die SchülerInnen sollen merken, dass es keine Tabuthemen gibt, der Lehrer nicht moralisierend den Zeigefinger erhebt und sie über alles sprechen dürfen, was sie bewegt – sei es Cybersex oder die anstehende Scheidung ihrer Eltern, die ausländerfeindlichen Plakate im Wahlkampf, Computerspiele, Pubertät und ihre Auswirkungen auf sie selbst und die Umwelt, Chatten im Internet, der erste Kuss und Verhütung, AIDS, Bulimie und Fresssucht, ihre altersspezifischen Ängste, Wünsche und Hoffnungen oder eine zu verhindernde Tiefbaugarage im Esterhazypark.

Medienkompetenz in der Praxis

Übrigens haben wir zum Thema "Tiefbaugarage im Esterhazypark" den Bezirksvorsteher ins Studio eingeladen und die Elfjährigen haben ihm zehn Fragen stellen dürfen. Der Bezirksvorsteher verteidigte seinen Plan und beschwichtigte sie, indem er verkündete, dass die großen Bäume, die gefällt werden müssten, solche seien, die schon in wenigen Jahren wieder so groß und schattenspendend seien. Da wurde er von Guelay unterbrochen: "Das glaub ich nicht. Mein Opa hat einen Garten in der Türkei und hat mir den Baum gezeigt, den er gepflanzt hat, wie ich auf die Welt gekommen bin. Er geht mir bis heute nur bis zum Bauchnabel, und jetzt bin ich schon bald zwölf." Ob sie denn wisse, was es für ein Baum sei, fragte der Bezirksvorsteher. Nein, sagte sie. "Siehst du!", antwortete er und bat um die nächste Frage. Ob er sie überzeugt hat, wage ich zu bezweifeln. Als ich sie dann das Ganze noch einmal anhören ließ und fragte, ob wir die Ahs und Ohs herausschneiden sollen, mit denen die langatmigen Antworten beginnen, meinte einer, schlau wie der pfiffigste Journalist: "Die lassen wir drin. Er ist ganz schön ins Schwitzen gekommen und das soll man hören." – Ein anschauliches Beispiel für Medienkompetenz und Medienmanipulation.

Sinnliche Wahrnehmung schulen

Es ist ein mit den Möglichkeiten spielendes Lernen, oder anders herum: Es ist ein spielendes Lernen im Umgang mit dem Medium und den Möglichkeiten, die es bietet. Wenn wir mit den Sendungen Preise gewinnen und nicht nur von den Freien Radios, sondern auch von öffentlich-Rechtlichen Sendern wahrgenommen werden, ist der Stolz über die Urkunde oder den gewonnenen Pokal so groß, dass die Kinder darüber streiten, wer den Pokal wie lange mit nach Hause nehmen darf. Solche Szenen sind jedes Mal ein neuer Ansporn und eine Bestätigung dafür, dass weder die Vorbereitung, noch die auf das Schneiden der Hörspiele und Hörbeispiele verwendete Zeit keinen Augenblick eine verlorene war.

Nach über 60 Sendungen zu verschiedensten Themen, die den SchülerInnen unter den Nägeln brannten, aber auch mich als Lehrer beschäftigten, wagte ich den Versuch, den "Struwwelpeter" auf seine Aktualität abzuklopfen. Das erste Mal ein Projekt, das über zwei Schuljahre dauern soll, um nach der Aufzählung der oben genannten Beispiele in der Gegenwart anzukommen. Gleichzeitig entstand ein Weblog, das es den SchülerInnen und mir als Projektleiter ermöglicht, alle Aktivitäten und Vorüberlegungen, aber auch die im Netz getätigten Recherchen zu dokumentieren. Das neue Kommunikationstool wurde von den SchülerInnen begeistert angenommen. Es bietet ihnen und mir eine Möglichkeit, den außerschulischen Kontakt zu suchen, und sich nicht nur untereinander, sondern auch mit Interessierten auszutauschen.

An dieser Stelle sei denjenigen gedankt, die mit uns LehrerInnen dafür sorgen, dass unsere Kinder eine mediale Stimme erhalten und auch gehört werden. Ohne Radio Orange oder Mittelwelle 1476 und die für die Sendungsabwicklung Zuständigen blieben diese Stimmen, die sich vor allem durch ihre erfrischende Authentizität auszeichnen, ungehört.

Wer sich intensiver als es in dem Artikel geschehen ist mit dem Thema befassen will, den verweise ich auf die Homepage meiner Schule.

"Der Wunsch ist ein Baum in Blättern, die Hoffnung ein Baum in Blüte, Genuss ist ein Baum mit Früchten."

Ein Gehörloser wurde einmal gefragt, was der Unterschied zwischen Wunsch und Hoffnung sei. Er antwortete in der Gebärdensprache: "Der Wunsch ist ein Baum in Blättern, die Hoffnung ein Baum in Blüte, Genuss ist ein Baum mit Früchten." Um bei diesem Bild zu bleiben: Für mich ist Radioarbeit mit Kindern ein Baum in allen Jahreszeiten, und die für die Schulpolitik Verantwortlichen sind gut beraten, diesem Baum nicht die Wurzeln abzutöten, indem es für kreatives Schaffen an Schulen immer weniger Raum und Zeit gibt.

Über Feedback freut sich

SR Helmut Hostnig
Media-KMS-Loquaiplatz 4
Radiobande Loquaiplatz
1060 Wien
E-Mail: hostnig [ÄT] chello.at

Quelle

http://www.schuelerradio.at/node/112
Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers