Was soll das Ganze?
Lars Gräßer und Johannes Klas

Warum brauchen wir Bildungsarbeit mit Medien? Und warum brauchen wir Medienkompetenzförderung? Ersteres ist Frage der Mediendidaktik (Lernen mit Medien). Zweiteres ist das Anliegen der Medienpädagogik (Lernen über Medien). Aber in der Praxis geht beides ineinander über und wird daher hier gebündelt diskutiert. Wir fragen also nach dem "Ganzen".

Mediennutzung und -wandel

Die mediale Durchdringung unseres Alltags verdeutlichen folgende Zahlen:

  • Zusammen genommen verbringen wir täglich über 10 Stunden mit Medien (Quelle).
  • Zwei von drei Arbeitnehmer(innen) in Deutschland haben Computerarbeitsplätze (Quelle).
  • Jugendliche verbringen heute ebenso viel Zeit mit dem Internet wie mit dem Fernsehen. Längst ist der PC für sie unverzichtbarer als das TV-Gerät (vgl. JIM Studie 2008) Nur bei Kindern ist das Fernsehen noch das Leitmedium. Stellt sich die Frage: Wie lange noch?

Auch die Möglichkeiten der Nutzung unterliegen einem starken Wandel. Breitbandverbindungen sind immer kostengünstiger und interaktive Anwendungen einer breiten Masse zugänglicher, dank einfacherer Handhabe. Das Internet und den damit verbundenen Diensten ermöglichen es Nutzer(innen), selbst aktiv zu werden, Inhalt zu gestalten und zu veröffentlichen, vom "Empfänger zum Sender" zu werden. Die Videoplattform YouTube hat dies auf eine einfache Losung gebracht: "Broadcast yourself". Gerne kann man da auch vom digitalem Klimawandel (Quelle) sprechen, wenn man sich des modischen Klimabegriffs bemächtigen möchte.

Diese Entwicklung zeigt sich insbesondere bei den sozialen Online-Netzwerken: Der STERN kam in der Ausgabe vom 3.9.2009 mit dem Titel "Generation Facebook" heraus. Facebook hat nach eigenen Angaben fast 4 Millionen Nutzer(innen) in Deutschland. Weltweit sollen es sogar mehr als 300 Millionen sein. Die ARD/ZDF Online Studie 2009 zieht aus diesen Zahlen einen anderen Schluss, den man zunächst nicht vermuten würde: "Die Vision des neuen Mediennutzers als stets multimedial und interaktiv Handelnden hat sich bisher nicht erfüllt." (Quelle) Während auf der einen Seite die Nachfrage nach Videoportalen, privaten Communitys und Onlineenzyklopädien weiter ansteigt, bleibt auf der anderen Seite der Anteil der partizipativen Nutzung in Form von Weblogs, beruflichen Communitys usw. eher auf einem gleichbleibend niedrigen Stand (ebenda). Die aktive Mediennutzung konzentriert sich auf einige wenige Angebote. Von einer breit gestreuten Partizipation kann also nicht die Rede sein.

Und der Bildungsbereich? Die "neuen Medien" sind hier noch nicht wirklich angekommen, so scheint es, geschweige denn ihre partizipative Nutzung. Ein Schlaglicht: Während 90 Prozent der Lehrer(innen) ihren Unterricht am Computer vorbereiten, kommen neue Medien nur zu 20 Prozent in der Unterrichtszeit zum Einsatz (Quelle).

Partizipation für alle?

Auch wenn der Wunsch nach Partizipation steigt, kann diese sehr unterschiedlich ausfallen, blickt man bspw. auf die Bildungsbenachteiligten. Der "digital divide" findet mittlerweile auf der qualitativen Ebene der Mediennutzung statt (vgl. Kutscher u. a. 2009): Jugendlichen mit einer niedrigeren formalen Bildung steht ein wesentlich beschränkteres Nutzungsspektrum zur Verfügung als Jugendlichen mit höherer Bildung. Die Jugendlichen mit einer niedrigeren formalen Bildung sind stärker fokussiert auf die unterhaltungsorientierte oder kommunikative Nutzung (u.a. Chatten), als zum Beispiel Gymnsiast(inn)en mit höherer Bildung. Letztere sind nicht nur für eine informationsorientiertere Nutzung aufgeschlossen, sondern auch darin geübt (ebenda sowie Schmidt u. a. 2009). Das Problem: Diese ungleichen Nutzungsmöglichkeiten verstetigen sich zu Haltungen, die schließlich zu ungleichen Partizipationschancen führen.

Die Auseinandersetzung mit dieser "partizipativen Lücke" findet unserer Ansicht nach im deutschen Diskurs der Medienpädagogik aber (noch) zu wenig statt, sieht man von einzelnen Stimmen ab (Kutscher 2009, Neuß 2009). Eher ergeht man sich in akademisch geprägten Debatten (wie zum Beispiel die Diskussion "Medienkompetenz oder Medienbildung?") bzw. schielt auf die Dynamik der medientechnologischen Entwicklung, ganz so als ob jedes neue Medium "seiner" speziellen Pädagogik bedarf. Dieser "Wettlauf" ist aber kaum zu gewinnen und führt letztlich in eine Technikzentrierung, die sich von Fragen nach dem 'Warum' zusehends entfernt.

Brauchen wir tatsächlich eine Medienpädagogik 2.0 oder eine Medienkompetenz 2.0? Brauchen wir ein Lernen 2.0? Wir sind nicht dieser Ansicht.

Evolutionäres Begriffsverständnis

Wichtige Impulse für die Evolution des Medienkompetenzbegriffs kommen mittlerweile aus Nordamerika, etwa von Henry Jenkins (u. a. 2006). Für Jenkins ist Medienkompetenz - im englischsprachigen Raum spricht man von Medienliteralität ("media literacy") - Voraussetzung für ein kollaboratives Lernen, für die Teilhabe am Gemeinschafts- und Berufsleben. Dabei ist Jenkins (2006) kein einseitiger Apologet: "First, textual literacy remains a central skill in the twenty-first century" (ebenda, S. 19). Häufig wird diese Forderung bei der Jenkins-Rezeption unterschlagen, um dann ein anderes Verständnis von Medienkompetenz anzumahnen: "Second, new media literacies should be considered a social skill" (ebenda). Diese Idee ist sicher nicht neu, wird in der deutschen Debatte aber in dieser pointierten Form kaum formuliert. Sie führt uns zu einer möglichen Antwort auf unserer Frage, "was soll das Ganze?" Wir sind der Ansicht, dass es in erster Linie um Partizipation "geht", um kulturelle Teilhabe ("participatory culture"), um Zugänge zu sozialen Netzwerken.

Bildungsziel Medienkompetenz

Warum brauchen wir also Bildungsarbeit mit Medien und Medienkompetenzförderung? Medienkompetenz ist fundamental für die Partizipation am gesellschaftlichen Miteinander. Medienkompetenz ist keine Nischen-, sondern eine Schlüsselkompetenz für die "Wissensgesellschaft". Sie kann die demokratischen Strukturen einer Gesellschaft stärken, hat also auch einen politischen Gehalt. Diese Kompetenz sollte mit Jenkins als "Social Skill" verstanden werden.

Partizipation ermöglicht Individuen die kulturelle, ökonomische, und politische Dimension der Gesellschaft für sich zu beeinflussen - für eine lebenswertere Gesellschaft. Das soll das Ganze.

Literatur und Quellen

ARD-ZDF-Onlinestudie (2009): http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/

Business Technology (2008): Anzahl der Computerarbeitsplätze wächst, online: Link

Kutscher u. a. (2009): Medienkompetenzförderung für Kinder und Jugendliche in benachteiligten Lebenslagen, LfM-Dokumentation Band 36, online: http://www.lfmnrw.de/downloads/Doku36_Medienkompetenzfoerderung.pdf

Media Perspektiven Basisdaten: Daten zur Mediensituation in Deutschland 2008, online http://www.media-perspektiven.de/basisdaten.html#c1481

Michael Meyen (2007) Präsentation: Zehn Stunden Mediennutzung am Tag: Deutschland einig Unterhaltungsland? online: http://www.medientage.de/mediathek/archiv/2007/Meyen_Michael.pdf

MMB-Institut für Medien- und Kompetenzforschung (2008): Digitale Schule - wie Lehrer Angebote im Internet nutzen, Essen Link

Norbert Neuß (2009): Warum Medienpädagogik? online: http://www.gmk-net.de/gmk/warum_medien.php

Jenkins u. a. (2006): Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century, online: http://www.newmedialiteracies.org/files/working/NMLWhitePaper.pdf

JIM Studie 2008, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest : http://www.mpfs.de/index.php?id=117

Jan Hinrik Schmidt, Ingrid Paus-Hasebrink, Uwe Hasebrink (2009): Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0 - Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Schriftenreihe Medienforschung der LfM Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Band 62. Berlin: Vistas.

Kontakt:

Lars Gräßer
lars.graesser@gmx.de

Johannes Klas
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Original des Beitrags:

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