Michael Wagner, Vier Leitsätze für die Schule des 21. Jahrhunderts (2008)

geschrieben am 25.10.2008 Tags: E-Teaching, Blended Learning, Neue Medien, Medienbildung, Schule, Kompetenz, partizipatives Web, audio-visuelle Medien, E-Learning, Web 2.0

Vor einiger Zeit habe ich ein Poster produziert in dem ich die 11 Kernkompetenzen der Medienpartizipation nach Jenkins ins Deutsche übertragen und visualisiert habe. Gleichzeitig sind von mir einige Arbeiten erschienen, die sich mit der Frage nach der Situation des Lernens in einer medialen Partizipationskultur beschäftigen. Bis jetzt habe ich mich allerdings noch wenig darüber geäußert, was diese Überlegungen nun konkret für den Lehrer oder die Lehrerin bedeuten. Ich möchte im Folgenden nun einen ersten Versuch starten, die Dinge etwas zu konkretisieren. Dabei habe ich einige wichtige Konsequenzen aus meinen Arbeiten in Form von vier bewusst plakativ formulierten Leitsätzen zu beschreiben versucht. Es gibt mit Sicherheit noch wesentlich mehr zu formulieren, diese vier Punkte liegen mir aber besonders am Herzen und sollen daher den Anfang machen.

1) Es gibt keine Lehrenden, nur Lernende

Ich werde in Bezug auf die von Jenkins beschriebenen 11 Kernkompetenzen oftmals angesprochen, dass es doch kaum jemanden geben würde, der bzw die alle diese Kompetenzen auch tatsächlich besäße. Dies ist natürlich richtig. Genau genommen ergibt sich daraus sogar eine der zentralen Handlungsanweisungen für eine zeitgemäße Pädagogik. Denn diese Kompetenzen zeigen sich generationenmäßig unterschiedlich ausgeprägt. Während einige der Kompetenzen von unseren Jugendlichen bereits in frühester Kindheit ausgiebig trainiert werden, sind andere wiederum an die reflexive Aufarbeitung von Lebenserfahrung gebunden. Dies bedeutet, dass sich in einer üblichen Klassensituation einige Kompetenzen verstärkt bei den Schülern und Schülerinnen wiederfinden, während andere ein Lebensprivileg der Lehrer und Lehrerinnen sind und bleiben.

Unterricht kann somit keine Einbahn der Vermittlung mehr sein, sondern muss vielmehr einen gegenseitigen Austausch von Kompetenzerfahrungen unterstützen. Die zeitgemäße Lehrerin oder der zeitgemäße Lehrer ist seinen Schülern und Schülerinnen weder unter- noch überlegen. Seine oder ihre Hauptaufgabe besteht in der Vervollständigung des Kompetenzportfolios der lernenden Klassengemeinschaft sowie in der Steuerung des Austauschprozesses. Im Wesentlichen bleibt der Lehrer oder die Lehrerin aber Zeit seiner oder ihres Lebens ein Lernender oder eine Lernende und es gibt nicht den geringsten Grund diese Tatsache vor den Schülerinnen und Schülern oder auch der Gesellschaft zu verstecken.

2) Faktenwissen ist wertlos

Inzwischen dürfte auch im letzten Teil der Öffentlichkeit klar geworden sein, dass wir uns in einer Informationsüberflussgesellschaft befinden. Information ist heute von jedem und jeder in beliebigem Umfang produzierbar und über Informationsnetze ohne Zeitverzögerung global verteilbar. Im wirtschaftlichen Umfeld spricht man bei einem derartigen Situtation von einer Kommodisierung des produzierten Gutes. Kommodisierung hat einen unangenehmen Nebeneffekt: sie macht das kommodisierte Gut wirtschaftlich wertlos. Geschäftsmodelle, die auf der Produktion basieren, funktionieren plötzlich nicht mehr und müssen durch andere Geschäftsmodelle ersetzt werden. Nichts anderes passiert zurzeit in der Schule.

Es gab einmal eine Zeit in der war die Hauptaufgabe der Schule, Faktenwissen zu vermitteln. Diese Zeit ist endgültig und unwiederbringlich vorbei. Dabei handelt es sich nicht um eine vorübergehende Modeerscheinung der Pädagogik, diese Tatsache ist direkte Konsequenz der Kommodisierung von Information. Niemand kann heute ein Interesse daran haben, dass Schule einer gesellschaftlich wertlosen Aktivität wie der Vermittlung von Faktenwissen, welches ohnehin überall in beliebigen Umfang vorhanden ist, nachgeht. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Prozessen der Informationsfindung und der Bewertung von Informationen und tatsächlichen oder vorgegebenen Fakten. Wie in anderen durch Kommodisierung betroffenen Wirtschaftsbereichen auch, verlagert sich auch die Hauptaufgabe der Schule somit auf die Prozessebene. Es geht nicht mehr darum, in einem Schulbuch die "wichtigen Stellen" zu unterstreichen und auswendig zu lernen. Es geht vielmehr darum zu vermitteln, wie man diese "wichtigen Stellen" erkennen kann und wie man deren Informationsgehalt zu bewerten hat. Ob man dies hinterher auswendig lernt oder nicht ist unerheblich, denn der eigentliche Informationsgehalt der "wichtigen Stellen" ist wertlos.

3) Standardisierte Bildung ist arme Bildung

Das 20. Jahrhundert könnte man auch als ein Jahrhundert der Standardisierung bezeichnen. In gewisser Weise hat Standardisierung sicherlich seinen Charme. Als ich noch in den USA lebte war es ausgesprochen hilfreich, dass ich mir in der standardisierten Welt eines amerikanischen Baumarkts keine Gedanken machen musste ob ein Ersatzteil nun passte oder nicht. Der Begriff "American Standard" nahm mir diese Sorge vollständig. Im Zusammenhang mit Schule sehe ich diesen Begriff jedoch als hochgradig problematisch. Aus den ersten beiden Leitsätzen ergibt sich direkt, dass sich die Aufgabe der Schule heute als hochgradig individualisiert darstellt. Es geht um Prozesse des Austausches von Kompetenzen zwischen allen Beteiligten. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass sich Unterrichtssituationen niemals wiederholen lassen können.

Als Gegenargument dazu wird dieser Tage oftmals angeführt, dass zwar das Lernen individualisiert sein sollte, dass aber das Bildungsziel zu standardisieren wäre. Auch diesem Argument stehe ich eher skeptisch gegenüber. Wenn man am Himalaya eine größere Gruppe Bergsteiger mit der Aufgabe losschickt, sie sollen sich entsprechend ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten eine individualisierte Route zum Gipfel suchen, so werden wahrscheinlich zwar alle Bergsteiger einen Gipfel erreichen, es ist aber keinesfalls zu erwarten, dass alle Bergsteiger schlussendlich am selben Gipfel stehen werden. Warum auch, schließlich ist ja sprichwörtlich der Weg - und damit der Prozess - das Wichtigste. Warum sollten dann aber alle Schüler und Schülerinnen dieselben Bildungsziele erreichen müssen? Und wenn sie es müssen weil wir als Gesellschaft dies so haben wollen, schränkt dies nicht ihre Möglichkeiten der individualisierten Entwicklung ein? Sollte nicht auch hier eigentlich der Prozess im Vordergrund stehen?

Tom Friedman hat vor einiger Zeit mit seinem Buch "The World is Flat" viel Aufsehen erregt. Im Wesentlichen geht es darum, dass standardisierte Prozesse global bewegbar sind. Wenn man weiß in welche Richtung man einen Schraubenschlüssel zu drehen hat, macht es keinen Unterschied ob man dies in Wien, Bratislava oder Kiew macht. Dies bedeutet, dass Standardisierung Prozesse kommodisiert und damit - wie weiter oben bereits einmal argumentiert - wertlos macht. Wenn wir Bildung also standardisieren, so machen wir sie somit ebenfalls wertlos. Beispielsweise wäre es heute im Sinne von Friedmans Flat World Ansatz problemlos möglich, ein perfekt standardisiertes online Masterstudium über die tutorielle Betreuung aus einem Call Center in Indien abwickeln zu lassen.

Es gibt für uns somit keinen anderen gangbaren Weg mehr als eine hochgradig personenbezogene Individualisierung von Bildung und Bildungszielen. Standardisierte Bildung ist dagegen arme Bildung. Dies hat für Lehrer und Lehrerinnen auch einen auf den ersten Blick vielleicht unerwarteten Nebeneffekt. Unterricht ist entsprechend den am Unterricht beteiligten Personen zu individualisieren. Konsequenterweise darf sich daher niemand dazu verpflichtet fühlen, bestimmte Technologien im Unterricht einsetzen zu müssen nur weil es gerade zeitgemäß erscheint. Ich bin persönlich ein starker Verfechter des Digital Game Based Learning, aber spielbasierte Ansätze können etwa über Rollenspiele auch vollkommen technologielos methodisch hochqualitativ umgesetzt werden. Ganz im Sinne des Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend ergibt sich aus dem Ruf nach Individualisierung daher auch in der Unterrichtsplanung ein "wider den Methodenzwang" sowie analog ein "wider den Technologiezwang".

4) Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir

Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass für mich einer der wichtigsten Leitsätze für eine Schule des 21. Jahrhunderts gleichzeitig auch einer der ältesten ist. Schule sollte niemals Selbstzweck sein, sondern einen Bezug zur realen Umwelt aller Beteiligten aufweisen. Gesellschaftlich bedeutsames Lernen geschieht über die Reflexion der schulischen Aktivitäten im Kontext der realen Lebensumwelt. Biologie ist nicht der Inhalt eines Biologiebuchs, es ist der Tätigkeitsbereich eines Biologen. Wer Biologie unterrichtet muss also die Schüler und Schülerinnen erst dazu befähigen wie Biologen zu denken um Biologie begreifbar zu machen. Ob dies am Besten mit Game Based Learning, Problem Based Learning, Achored Instruction oder äquivalenten Methoden geschieht, ist wie bereits erwähnt abhängig von den individuellen Bedürfnissen aller am Lernprozess beteiligten Personen. Wichtig ist aber, dass in der Schule ein individuell fühlbarer reflexiver Bezug zur Realität hergestellt wird.

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