Medienbildung und Fachdidaktik Deutsch (2011)

Gudrun Marci-Boehncke, Vorsitzende der AG Medien im Deutschunterricht - Fachgruppe des Symposion Deutschdidaktik Beitrag für die AG "Medienbildung in die Schule!", Medienpädagogischer Kongress 2011 in Berlin am 24.03.2011

1996 erschien in der Zeitschrift Medien Praktisch ein Beitrag mit dem Titel: "Medienpädagogik in die Schule: Plädoyer für ein fachspezifisches Curriculum - jetzt!". Autoren waren keine MedienpädagogInnen, sondern Deutschdidaktiker - Wolfgang Gast und ich. Und in der Rückschau stelle ich verblüfft fest, dass sich die Diskurse und Dispute zwischen Pädagogik und Fachdidaktik seither wenig verändert haben. Um es gleich zu sagen: Ich bleibe auch heute für den Schulalltag bei meinem Plädoyer für eine fachspezifische, in den Schulfächern selbst zu leistende Medienbildung. Denn nur die Fächer können sich kompetent mit den Themen und Inhalten von Medien auseinander setzen.

Das Fach Deutsch hat institutionell dann 1997 im Symposion Deutschdidaktik, dem Verband aller DeutschdidaktikerInnen, die AG Medien gegründet. Erklärtes Ziel der AG Medien war von Anfang an ein Doppeltes:

  • zunächst "das Gespräch sowohl innerhalb der Germanistik als auch mit der Erziehungswissenschaft zu suchen"
  • und darüber hinaus "die wissenschaftliche Erforschung von Medien als Mittel und Gegenstand des Deutschunterrichts" zu befördern.

Warum nun engagiert sich das Fach Deutsch in besonderer Weise? Dies hat fachwissenschaftliche Gründe. Schon seit den 1970er Jahren ist in der Germanistik der klassische Textbegriff vom Schrifttext einem erweiterten Begriff des Medientextes gewichen. Alle zu untersuchenden Gegenstände sind Texte - Filme, Hörtexte, Hypertexte, auch Bilder, Songs, Spiele, Web 2.0 Kommunikation und anderes mehr. Ihre "Sprache", ihre Darstellungs- und Vermittlungspotentiale, ihre Rezeptionsvoraussetzungen und ihre Wirkungsmöglichkeiten sind - immer gebunden an die Inhalte - fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Untersuchungsgegenstand. Dies gilt natürlich auch für die medialen Rahmenbedingungen oder Strukturen selbst. Heißt: Die technischen, semiotischen, sozialökonomischen und kulturellen Differenzierungen des Medienbegriffs sind - idealiter - Grundlage auch des Deutschunterrichts - und zwar egal, ob mit Neuen oder traditionellen Medien.

Medienbildung im Fach Deutsch versteht sich als medienreflexive Konzeption sprachlich-literarischer Erfahrungen und Fertigkeiten.

Die moderne Medialität ist eine kategoriale, aber keine grundsätzliche Erweiterung der Gegenstände und Arbeitstechniken des Faches.

Damit erledigt sich auch die Annahme, die Fachdidaktik reduziere Medienbildung auf Literacy. Nicht erst seit PISA ist klar, dass Literacy-Konzepte allein zu kurz greifen für Medienbildung.

Aber auch andersherum gilt, dass Medienbildung nicht möglich ist ohne ein bestimmtes "Inhalts- und Strukturwissen". Zufälliges Medienproduzieren ohne Reflexionsebene ermöglicht dem Mediennutzer selbst keine "Bildung", keinen Zuwachs an Erkenntnis, keine Erweiterung der medialen Fertigkeiten und keine reflexive, kreative und kritische Haltung, die übertragbar wäre. Daher gehören Literacy und die übrigen Dimensionen von Medienkompetenz zusammen, ja, Medienkompetenz im umfassenden Sinne, wie sie Baacke, Tulodziecki, Spanhel, Aufenanger und andere formuliert haben, ist zum einen Teil in einem wohlverstandenen Literacy-Konzept. Aber bei Literacy bleibt die Deutschdidaktik auch bei Medien nicht stehen: Der sozialisationstheoretische Ansatz gehört dazu. Das umfassende Konzept "Literarischer Bildung" als Zielgröße des Deutschunterrichts ist analog auf Medienbildung übertragbar. Es darf nicht nur um "Medienkompetenzstufenschulung" gehen, sondern um eine kontextbezogene, das Individuum auch in umfassenden Lebenszusammenhängen zu berücksichtigende Bildung!

Fazit: Die Deutschdidaktik ist nicht nur kein "Gegner" der Medienpädagogik, sondern Deutschdidaktik versteht sich als ihren Partner im gemeinsamen Bemühen, Medienkompetenz zu einem integralen Bestandteil von Bildung zu machen. Das Fach Deutsch ist schon jetzt prominenteste Umsetzungsinstanz von Medienkompetenz im Unterricht - von der Grundschule aus in alle weiterführenden Institutionen. Und ihre Perspektive - das Ausgehen von Themen, nicht von Medienformen - sollte u.E. auch für andere Bildungskonzepte richtungsweisend sein, etwa für die Frühe Bildung.

Aber dennoch ist die Umsetzung an der Basis noch nicht zufriedenstellend. Selbst wenn Lehrkräfte privat intensiv Medien nutzen, übertragen sie häufig genug diese Praxis nicht auf den Unterricht.

Es fehlt einiges - und dies waren zugespitzt die Punkte, die ich abschließend noch nennen möchte:

  1. Wir wissen nicht, was an "Medienbildung" von Lehrkräften der Fächer wirklich gedacht und konzipiert wird. Es braucht also eine große Studie zur Umsetzung solch eines integrativen Medienbildungskonzeptes im Fachunterricht - nicht nur, aber eben auch im Fach Deutsch und zwar bei den Lehrkräften und nicht bei den Lernenden - sonst erfragen wir Selbstsozialisationsfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler!
  2. Eine Person allein dreht den Unterricht nicht um: Wir Fachdidaktiker fordern daher die Fortbildung kompletter Deutschkollegien an Schulen, um gemeinsam eine "integrative Denke" zu erarbeiten, die von traditionellen Konzepten zur integrierten Medienbildung führt. Integriert heißt hier vor allem: Medienbildung ist keine zusätzliche Aufgabe in der Schule, sondern ein anderes Verständnis von schulischer Bildung überhaupt. Nicht mehr, sondern anders muss vermittelt werden.
  3. Im Rahmen der Lehramtsausbildung im Fachstudium muss daher Medienbildung konsequent fachdidaktisch aufbereitet werden - und zwar auf allen Ebenen. Keine Zweiklassengesellschaft in Sachen Medienbildung: die elaborierte Filmsprache für Gymnasiale und Hörspiel-machen für die Grundschule. Medial müssen alle Lehrkräfte alles denken können.
  4. Die Evaluation sollte auch die Wirklichkeit der Lehramtsausbildung im Fach Deutsch betreffen: nur wenn es keine Schlupflöcher mehr gibt, die es erlauben, ohne Mediendidaktik Lehrkraft zu werden, wird sich nachhaltig etwas ändern. Dies sollten auch Akkreditierungskomissionen für Lehramsstudiengänge berücksichtigen und einfordern.
  5. Die Schulleitungen bestimmen den Kurs - sie müssen klare und verbindliche Leitlinien für die Medienbildung formulieren. Für jedes Fach brauchte es - gern zusätzlich - einen Medienbeauftragten, der inhaltlich strukturiert und informiert. Und wenn Schulleitungen dies nicht können, dann muss ihnen ihrerseits ministeriell auf die Sprünge geholfen werden.

Medienbildung ist keine Geräteschulung und auch keine abgehobene Textanalyse. In Medien werden immer Themen transportiert - in einer spezifischen Sprache, über bestimmte technische Verfahren und zu einem intendierten Zweck.

Deshalb gilt es - und hier ist der Stand der fachdidaktischen Diskussion im Fach Deutsch längst angekommen - Medienbildung gemeinsam in den Blick zu nehmen: mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, aber integrativ und über die gesamte Schullaufbahn und in allen Fächern!

Wir unterstützen politisch alle Forderungen und konzeptionellen Überlegungen - aber für schulische Kontexte setzen wir dezidiert auf die Fachdidaktik und gehen wir dezidiert von den Fächern aus.

Medienpädagogik als das Fach mit dem alleinigen Ausbildungsmonopol in Sachen Medien lehnen wir für Schulen und Hochschulen explizit ab!

Weil dieses Modell die Fächer zurück wirft und andererseits nicht leisten kann, was es vespricht. Sinnvoll ist auch hier gemeinsames Handeln! Deshalb gilt beides: im Studium schon muss Medienpädagogik als eigener Schwerpunkt im Kontext der Bildungswissenschaften angeboten werden und gleichzeitig muss Medienbildung integriert in allen Fachdidaktiken zum Zuge kommen!

Lehrerinnen und Lehrer haben immer eine fachliche Anbindung und sollten aus dieser heraus die moderne Medienwelt mitdenken und vermitteln. Medienpädagoginnen und Medienpädagogen können aber nicht zugleich auch alle Fächer in ihren Inhalten mit vertreten. Einer Medienpädagogik in der Schule ohne fachspezifischen Hintergrund fehlt notwendig der Zugang zum Verständnis dessen, was Mediennutzung im Kern motiviert: die Themen und die Inhalte.

Quelle

Mit freundlicher Erlaubnis der Verfasserin
http://www.keine-bildung-ohne-medien.de/Doku_AG-MBidSchule110324.pdf