Bundesministerium der Justiz, Der Grundrechtsschutz in der digitalen Welt ist aktueller denn je! (2013)

Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (GG) schützt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus im Zusammenspiel mit der Menschenwürde-Garantie (Artikel 1 Absatz 1 GG) einen ausdifferenzierten Schutz der Persönlichkeit und der Privatsphäre entwickelt:

  • Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sichert "jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann“ (BVerfGE 117, 202, 225). Dieser Schutz umfasst verschiedene Aspekte. Jeder darf grundsätzlich selbst entscheiden, wie er sich gegenüber Dritten darstellen will, und ist vor verfälschenden Darstellungen geschützt (BVerfGE 99, 185, 194). Der Schutz erstreckt sich auf die Ehre, den Namen oder darauf, dass einem keine falschen Äußerungen in den Mund gelegt werden.
  • Die Privatsphäre genießt einen Grundrechtsschutz, den das Bundesverfassungsgericht thematisch und räumlich bestimmt: "Er umfasst zum einen Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als "privat" eingestuft werden“, etwa die Auseinandersetzung mit sich selbst in Tagebüchern, der Bereich der Sexualität oder der Umgang mit eigenen Krankheiten. "Zum anderen erstreckt sich der Schutz auf einen räumlichen Bereich, in dem der Einzelne zu sich kommen, sich entspannen oder auch gehen lassen kann“ (BVerfGE 101, 361, 382f).
  • Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt die Freiheit, "grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“ (BVerfGE 113, 29, 46). Geschützt ist auch das Recht am eigenen Bild sowie das Recht am eigenen Wort. Jeder darf grundsätzlich selbst entscheiden, ob er fotografiert oder mitgeschnitten werden darf und was mit solchen Aufnahmen geschieht (BVerfGE 106, 28, 39f).
  • Das neu entwickelte sog. Computergrundrecht schützt die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, also etwa PC, Notebook, Tablet oder Smartphone. Geschützt ist "zunächst das Interesse des Nutzers, dass die [...] Daten vertraulich bleiben. Ein Eingriff [...] ist zudem dann anzunehmen, wenn die Integrität [...] angetastet wird, indem auf das System so zugegriffen wird, dass dessen Leistungen, Funktionen und Speicherinhalte durch Dritte genutzt werden können; dann ist die entscheidende technische Hürde für eine Ausspähung, Überwachung oder Manipulation des Systems genommen“ (BVerfGE 120, 274, 314).
  • Besonders weit geht der Schutz im Kernbereich privater Lebensgestaltung. Während die übrigen von Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG geschützten Grundrechtspositionen aus überwiegenden Allgemeininteressen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden können, ist ein letzter unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen. "Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können Eingriffe in diesen Bereich nicht rechtfertigen; eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt“ (BVerfGE 80, 367, 373).

Die Grundrechte schützen in ihrer klassischen Funktion vor staatlichen Eingriffen. Über die Abwehrfunktion hinaus enthalten die Grundrechte eine objektive Werteordnung, die auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlt. Im Privatrecht schützen Grundrechte darum nicht nur gegen staatliche Eingriffe in geschützte Freiheiten. Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ist bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften und Generalklauseln zu beachten. Die Grundrechte durchdringen so die gesamte Rechtsordnung und entfalten auch zwischen Privatpersonen eine mittelbare Drittwirkung.

Das digitale Zeitalter lässt den Schutz der Grundrechte nicht hinter sich, sondern stellt ihn vor neue Herausforderungen. Die Grundrechte sind immer "mit von der Partie“, wenn wir uns in der digitalen Welt bewegen:

  • Der staatliche Zugriff auf digitale Daten und Informationen fordert die Grundrechte in ihrer klassischen Abwehrfunktion. Unermessliche Datenmengen und Informationsströme können mit technischen Mitteln gerastert, verknüpft und ausgewertet werden. Die Angst vor Terrorismus und das Streben nach Sicherheit wecken das staatliche Interesse, vorhandene Daten mit weiteren zu speichernden Informationen über das Telekommunikations- und Nutzungsverhalten im Internet zu verknüpfen, diese Daten zu verbinden und systematisch auszuwerten. Staatliche Überwachung kann zu einem diffus bedrohlichen Gefühl des Beobachtetseins werden und Menschen davon abhalten, ihre Freiheitsrechte unbefangen wahrzunehmen. Wenn etwa damit gerechnet werden muss, dass der Staat erfasst, in welches arabische Land man reist, ob man Bekannten dort Geld überweist oder mit wem man telefoniert, kann das sogar dazu führen, dass völlig legale Verhaltensweisen aus der Sorge heraus, sich auffällig zu verhalten, unterlassen werden.
  • Die Grundrechte entfalten ihre Kraft überall, auch wenn sich private Akteure gegenüberstehen. Moderne Social Media Angebote fußen auf der Notwendigkeit, private Daten für Technologien und Internetdienste zu öffnen, etwa um Freunde zu gewinnen oder soziale Anerkennung zu ernten. Zahllose vermeintlich kostenfreie Angebote werden tatsächlich in der Währung des digitalen Zeitalters bezahlt – mit persönlichen Daten und Informationen. Einmal offenbarte Daten können technisch unbegrenzt vorgehalten, verknüpft und weiterverwertet werden. Die Grundrechte stehen vor neuen, großen Herausforderungen. Es gilt, die Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten mit dem Bewusstsein für Persönlichkeitsschutz und Privatsphäre zu verbinden. Es gilt, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Computergrundrecht in Einklang zu bringen.

Mit freundlicher Genehmigung durch das Bundesministerium der Justiz

Quelle