Friederike Siller, YOUCitizen - Kindheit und Freiheit im Netz (2016)

Lebe wild und gefährlich? Passé. Unter dem Eindruck von Krieg und Terror, Finanzkrise und Klimawandel, Arbeitswandel und sozialen Ungleichheiten hat sich die Matrix verschoben. Was wächst, ist die Nachfrage nach Sicherheit und Stabilität. Das gilt auch für unseren Umgang mit dem Internet. Das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet konstatierte bereits 2012 in einer Studie über Vertrauen und Sicherheit im Netz: "Wer sich nicht auskennt, fordert Schutz – wer sich sicher fühlt, fordert Freiheit.“ (DIVSI 2012: Kap. 5.1)

Wo in der Matrix liegen gegenwärtig die Vorstellungen für das Aufwachsen von Kindern in mediatisierten Welten, inmitten digitaler Dienste und Angebote? Nachstehend werden als Impuls drei Punkte eingebracht.

  • Erstens: Die Medienpädagogik hat eine wachsende Bedeutung für übergeordnete Fragen der Gesellschaft. Vor allem geht es um Freiheit und Demokratie. Zwei Prinzipien, die eng mit dem Internet verbunden sind.
  • Zweitens: Schon bei der Frage, wie Kinder mit dem Netz umgehen und wie sich das Netz für Kinder darstellt, geht es um Freiheit. Kleine persönliche Freiräume und Aufwachsen in einer Kultur der Freiheit.
  • Drittens: Stichpunkte für eine Entwicklung nach vorne. Den Kindern Freiheit vermitteln.

Medienpädagogik und die demokratische Freiheit

Vor allem Eltern stellen sich oft die Frage: Wie viel Freiheit können wir dem Kind geben, wenn es im Digitalen unterwegs ist? Auf welche Internetseiten soll es gehen dürfen? Ab wann das erste Smartphone? Wie lange am Tag online sein? Dabei geht es um die ganz persönliche Freiheit, im engeren Umfeld. Wenn wir Kinder auf ihrem Weg in das Erwachsensein begleiten, ist es doch unter anderem unser Ziel, sie auf die individuelle Selbstbestimmung und eine größtmögliche Autonomie bei ihrer Lebensführung vorzubereiten. Wir wollen, dass sie ihr Leben einmal selbst frei gestalten und für sich und andere sorgen können. Auch dies ist persönliche Freiheit.

Freiheit aber ist umfassender zu sehen. Denn diese persönliche Freiheit setzt voraus, dass es auch eine äußere Freiheit gibt. Dazu gehören ein freiheitliches Gemeinwesen und die Freiheit, dieses demokratisch mitgestalten zu können. Persönliche Freiheit und ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen stehen also in einem untrennbaren Zusammenhang. Wer seinen Kindern alles Notwendige für ein späteres Leben in Freiheit mitgeben möchte, der muss sie auch in die Lage versetzen, das freiheitliche demokratische Gemeinwesen mitzugestalten und zu verteidigen. Freiheit also nicht nur als Lesart von individueller Selbstbestimmung und Autonomie, sondern auch als Lesart von Partizipation.

Unser Gemeinwesen wird in zunehmendem Maße über digitale Technologien ausgehandelt und gestaltet. Digitale Dienste und Angebote haben in der Demokratie inzwischen eine sehr eigenständige Rolle eingenommen. Auf der einen Seite bringt dies große Möglichkeiten. In Zeiten von Informationsfreiheit und digitaler Vernetzung ist es schwerer geworden, zum Beispiel ein Freihandelsabkommen an den Menschen vorbei zu verhandeln. Die Menschen fordern Stellungnahmen über Internetportale wie abgeordnetenwatch.de bei Parlamentariern ein. Durch das Internet im Allgemeinen und im Speziellen durch Portale wie fragdenstaat.de sind fundierte Hintergrundinformationen in einem bislang ungekannten Detailgrad verfügbar. Die Antworten erhält nicht mehr nur ein einzelner Absender der Frage. Vielmehr sind diese für eine Vielzahl von Menschen verfügbar. Politik funktioniert zunehmend darüber, dass sich Menschen in Sozialen Netzwerken zu einem bestimmten Zweck zusammenfinden und organisieren. Auf der anderen Seite steigt aber auch die Unsicherheit, weil Informationen nicht immer validiert sind und sich Menschen absichtlich oder irrig in abgeschottete Informationswelten begeben, wie manche Facebookprofile in radikalen oder extremistischen Umfeldern nahelegen. Diese können von dumpfen Parolen bis zur geschickten Manipulation für Extremismus und menschenfeindliche Ziele werben.

Was haben wir Medienpädagoginnen und -pädagogen damit zu tun? Medienpädagogik war schon immer, ist aber gerade in aktuellen Tagen, eng mit der politischen Bildung verzahnt. Damit liegt es auch an uns, einen vielleicht kleinen, vielleicht wichtigen Beitrag zu leisten, junge Menschen zu unterstützen, mit den Möglichkeiten als auch mit Risiken rund um Kommunikation und Kommunikationskulturen im digitalen Raum umzugehen, Kindern ihre Chancen auf Meinungsäußerung und Teilhabe zu eröffnen, aber auch ihren Blick für Bedrohungen und Angriffe auf Freiheit und Demokratie zu schärfen. Die Medienpädagogik kann damit in der freiheitlichen demokratischen Gesellschaft ein großes Betätigungsfeld einnehmen. Gleichzeitig hat sie eine besondere Verantwortung.

Es gibt bestimmt Menschen, die eine eher ablehnende Haltung haben, junge Menschen, gar Kinder, zu ermutigen, in die Politik vorzudringen. Womöglich bis in die Sphäre des politischen Meinungskampfes. Dem kann man entgegnen: Kinder haben darauf ein Anrecht. Die Konvention über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen, kurz die Kinderrechtskonvention, gibt Kindern nicht nur ein Recht, auf Freiheit und Demokratie vorbereitet zu werden. In der Konvention sind darüber hinaus klassische Bürgerrechte formuliert, die Kindern unmittelbar zustehen. Kinder haben etwa das Recht, sich aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen zu informieren. Auch stehen ihnen Meinungsfreiheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zu (vgl. BMFSFJ 2015).

Daraus resultiert vielleicht die Frage: Wollen Kinder und Jugendliche das überhaupt? Bescheid wissen? Aufschlussreich ist dazu beispielsweise die Studie Sprichst du Politik (2011). Sie zeigt auf der einen Seite: Kinder und Jugendliche verstehen nicht, was Politiker sagen. Oder – was vielleicht noch schlimmer ist – sie fühlen sich unverstanden. Es handelt sich um unterschiedliche Lebenswelten, regelrecht um Parallelwelten.

"Das ist das Dilemma, in dem sich die Jugendlichen befinden: Das Gefühl, in der Demokratie gebraucht zu werden, aber nicht die Möglichkeiten zu haben, dieser Aufgabe gerecht zu werden.“ (Arnold et al. 2011: 7)

Auf der anderen Seite besagt die Studie: Kinder und Jugendliche interessieren sich für Politik. Kinder und Jugendliche wissen, dass Politik ihr Leben gestaltet und ihre Zukunft davon abhängt. So haben sich die befragten Schülerinnen und Schüler dafür ausgesprochen, aktuelle politische Themen schon in der Grundschule zu behandeln. Positiv vermerken lässt sich hier ja auch die Shell Jugendstudie 2015 (Albert/Hurrelmann/Quenzel 2015). Als ein wesentliches Ergebnis wird dort dargestellt, dass das Interesse an Politik bei Jugendlichen gestiegen ist.

Deshalb können und sollten wir als Medienpädagoginnen und -pädagogen überlegen: Wie können wir unseren Beitrag dafür leisten und intensivieren, dass sich die Parallelwelten wieder erreichen und wie können wir Kindern Hilfestellung anbieten, sich erstens zu orientieren in einer entsicherten Welt, sich zweitens einzumischen und drittens die Grundprinzipien Freiheit und Demokratie weiter zu pflegen.

Wie Kinder mit dem Netz umgehen und wie sich das Netz für Kinder darstellt

In der Praxis können wir uns ansehen, wie Kinder zunächst ihre persönlichen Freiräume im Digitalen erkunden. Ich sehe vor allem drei relevante Entwicklungslinien:

  • a) Kinder nutzen das Internet immer früher.
  • b) Kinder suchen im Netz nach Unterhaltung, nutzen es aber auch, um Freundschaften zu pflegen und sie nutzen es, um ihren Interessen nachzugehen.
  • c) Die Grenzen verschwimmen, das gilt sowohl hinsichtlich der Angebote im Netz als auch hinsichtlich der grundlegenden Kategorien on- und ofline.

Zu a) Das Internet wird für Kinder früher relevant als wir das noch vor einigen Jahren gedacht haben. Immerhin 11 Prozent der Eltern von Dreijährigen geben an, dass ihre Kinder bereits das Internet nutzen (vgl. DIVSI 2015: Kap. 5.1). Viele Grundschüler bewegen sich heutzutage schon in virtuellen Welten mit sozialen Netzwerkfunktionen (z.B. Club Penguin, Minecraft). Die Richtung ist angezeigt: Ältere Kinder (9 bis 12 Jahre) nutzen das Internet zunehmend so, wie Teenager das noch vor wenigen Jahren taten. Und die Internetnutzung von jüngeren Kindern (5 bis 8 Jahre) nähert sich der von Tweens, also den älteren Kindern an (vgl. Holloway 2014).

Zu b) Wonach suchen Kinder im Netz? Über Logileanalysen der Suchmaschinen für Kinder im deutschsprachigen Raum (Blinde Kuh, Helles Köpfchen, fragFINN) haben verschiedene Studien Aussagen dazu treffen können, wonach Kinder im Netz suchen: Spiele, Chats, Informationssuche stehen oben auf der Liste. Ich möchte in dem Zusammenhang noch eine andere Studie anführen: Die Kulturanthropologin Mizuko Ito geht in der ethnograischen Studie Living and Learning with New Media über drei Jahre hinweg der Frage nach, wie ältere Kinder Multimedia im außerschulischen Kontext nutzen (Ito et al. 2008). Ito zeichnet bereits im Jahr 2008 zwei grundlegende Formen medialer Praktiken nach: "Friendship-driven Practices“ und "Interest-driven Practices“. Vornehmlich nutzen Heranwachsende Ito zufolge das Internet zur Pflege von Beziehungen und Freundschaften aus dem Lebensumfeld (also aus Schule, Sportvereinen u.v.m.). Daneben beschreibt sie mit dem Begriff der interessenbezogenen Praktiken die Onlineaktivitäten, welche Heranwachsende tätigen, um über den Horizont ihrer direkten Lebenswelt (ihrer Schule, Community) hinaus mittels Internet an Informationen zu gelangen, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und zusammenzuschließen, um ihren Interessen nachzugehen. Die Ergebnisse der Studie legten schon damals, also 2008 nahe, dass Kinder Informationen aus dem Netz zwar vorwiegend über klassische Suchmaschinen erhalten, dass aber auch andere Formen an Relevanz gewinnen wie Videoplattformen und Communitys. Man kann also als Zwischenfazit sagen: Kinder suchen sich Freiräume auch im Netz.

Nimmt man neuere Studien (z.B. OFCOM 2014, OFCOM 2015) in den Blick, wird genau diese Entwicklung bestätigt. Die Bewegtbildnutzung im Internet bei Kindern ist deutlich angestiegen, insbesondere YouTube ist für viele ältere Kinder die erste Anlaufstelle auch für Informationssuche (außer für Hausaufgabenrecherche, da wird die klassische Text-Suchmaschine genutzt). Die Browsernutzung sowie die klassische Suchmaschinennutzung nehmen an Bedeutung ab.

Zu c) Die Grenzen verschwimmen und zwar in alle Richtungen. Innerhalb von Anwendungen: Bei vielen Anwendungen, z.B. bei Spielen, werden auch Social Media-Elemente angeboten (Farmville, Minecraft). Aber auch weitergehend: Die US-amerikanische Studie The Common Sense Census (Common Sense 2015) verwendet u.a. den Claim: "Multitasking is the New Normal“ und hebt damit hervor, dass Schülerinnen und Schüler zu einem durchaus kritischen Anteil beim Hausaufgabenmachen parallel noch Social Media nutzen (50 %), texten (60 %), fernsehen (81 %) und Musik hören (76 %) (ebd.: 80ff.). Sie kommen auf neun Stunden, die ein Jugendlicher Zeit mit Medien verbringt, und sechs Stunden, die ein Tween (8 bis 12 Jahre) mit Medien verbringt – jeweils ohne den schulischen Mediengebrauch und die Mediennutzung, die beim Anfertigen der Hausaufgaben anfallen, mitzurechnen (ebd.: 13).

Hinzu kommt: Mobile internetfähige Geräte sind innerhalb weniger Jahre in Kinderhände gekommen. Die Entwicklung ist rasant. Wir mögen im Moment in Deutschland noch eher auf die Ausstattung der Familien, der Eltern mit Smartphones und Tablets schauen, aber schon jetzt korrespondiert in Deutschland die Ausstattung der Familien mit Tablets und Smartphones mit einer zunehmenden mobilen Mediennutzung von Kindern. Schaut man auch hier wieder auf die Zahlen aus dem US-amerikanischen Raum, haben 53 Prozent der Tweens (8- bis 12-Jährigen) bereits ihr eigenes Tablet, 24 Prozent ihr eigenes Smartphone. Und: 41 Prozent der Zeit, die sie mit Medien verbringen, tun sie dies über die mobilen Geräte (ebd.: 16ff.).

Wann bin ich online? Für mich deuten die Studien, die derzeit veröffentlicht werden, letztlich mehrheitlich darauf hin, dass Kinder künftig immer weniger zwischen on- und ofline unterscheiden werden, sie es eigentlich auch gar nicht mehr wissen (oder bei jüngeren Kindern: es jemals gewusst haben werden), wann sie on- und wann ofline sind, weil es letztlich keine relevante Kategorie für sie ist.

Mit diesen Ausführungen im Rücken möchte ich einen Blick auf die Angebotsseite werfen. Wie werden Kinder – um unser Thema wieder aufzugreifen – begleitet durch Angebote im Netz, die ihnen den Weg bahnen und Zugänge öffnen sollen in unsere demokratische Gesellschaft? Einerseits kann und muss man sich dieser Frage darüber annähern, wo Kinder gerne hinsurfen, was für sie die wichtigen Seiten im Netz sind. Wenn man Kinder dazu befragt, ähneln sich die Nennungen der Lieblingswebsites. Genannt werden die Angebote aus dem Kinderfernsehen wie Kika und Toggo, Spielseiten wie Spielaffe und YouTube als Bewegtbildangebot. Mit etwas Abstand werden dann auch Suchmaschinen für Kinder wie Blinde Kuh und fragFINN genannt sowie Markennamen wie Bravo, Wendy und Barbie. Wenn man das noch auf Apps erweitert, kommt WhatsApp als beliebtes Soziales Netzwerk hinzu, das Interesse an Facebook sinkt, an Snapchat wächst. Das ist im Wesentlichen das Relevant Set an insgesamt betrachtet wenigen Webseiten, auf die die meisten älteren Kinder regelmäßig gehen.

Andererseits haben wir es im deutschsprachigen Raum mit einer enormen Vielfalt an Internetseiten für Kinder zu tun. Es gibt nach meiner Kenntnis derzeit ca. 700 deutschsprachige Internetseiten für Kinder, die mannigfache Themen und Interessen in kindgerechter Sprache und Aufmachung bedienen. Für den Ausschnitt der Kinderwebsites, die sich im Themenfeld Politik und Gesellschaft bewegen, sind es Seiten wie allem voran Hansisau-Land (Bundeszentrale für politische Bildung), auch die Seite zu den Kindernachrichten logo! (ZDFtivi), Kindersache (Deutsches Kinderhilfswerk), Kuppelkucker (Deutscher Bundestag) und Kinder.diplo(Auswärtiges Amt). Und es gibt zahlreiche Seiten, die von Stiftungen, Vereinen, Privatpersonen betrieben werden. Beispiele sind etwa: Für Kinderrechte (Die Falken – Sozialistische Jugend Deutschlands), frieden-fragen.de (Berghof Foundation/Friedenspädagogik Tübingen), Religionen-entdecken.de (GbR religionen-entdecken), lokalpolitische Seiten wie POLINOVER.de (Politik zum Anfassen e.V.).

Diese Seiten werden es nicht ins Relevant Set schaffen und sie haben nicht die höchste Reichweite. Aber sie tragen einen entscheidenden Anteil daran, dass das Netz für Kinder vielfältig ist, Spezialinformationen bereithält, verschiedene kindliche Zielgruppen anspricht, Angebote für Kinder mit besonderen Bedürfnissen macht.

Stichpunkte für eine Entwicklung nach vorne

Das führt zu der Frage: Was können und müssen wir noch mehr tun, um Kindern im Netz Räume zu schaffen, und wenn ja, wie sollen diese Räume konzeptionell, programmatisch und im Konkreten ausgefüllt werden? Welche Angebote kann das Netz und damit meine ich uns, die ja auch hinter dem Netz stehen, Kindern machen? Ich orientiere mich dabei zumindest lose an den drei Begriffen, wie sie auch in der UN-Kinderrechtskonvention angeführt werden: Protection, Provision und Participation; Schutz, Grundversorgung und Beteiligung.

Schutz

Der klassische Jugendschutz schützt Kinder und Jugendliche als Individuen, sofern er den Einzelfall erreicht und wirksam ist. Er schützt aber auch dann – bestenfalls – nur für den Augenblick. Und er ist keine Schutzimpfung. Er immunisiert nicht gegen Extremismus. Er hilft also nur eingeschränkt, Kinder und Jugendliche stark zu machen, um selbst mit den verbalen Angriffen auf Minderheiten, Schwächere oder auf uns alle als demokratische Gemeinschaft umgehen zu können. Der Jugendschutz bleibt daher zwar unverzichtbar, um das Wohlergehen des Kindes zu schützen. Er reicht aber allein nicht. Und manchmal kann er auch hemmend wirken. Deshalb betont die UN-Kinderrechtskonvention gleichzeitig den freien Zugang der Kinder zu Informationen. Sie lässt Einschränkungen nur dort zu, wo das Wohlergehen des Kindes sonst beeinträchtigt würde. Es wird immer wieder über die sogenannten Helikoptereltern geschimpft und gefordert, die Kinder auch auf Bäume klettern zu lassen. Ebenso darf der Jugendschutz nicht übersensibel eingestellt werden, da junge Menschen sonst nicht lernen, selbst mit Gefahren umzugehen.

Wichtig ist es allerdings, Kinder damit nicht allein zu lassen. Sie benötigen Begleitung durch Eltern, Geschwister und Großeltern, Freunde, Lehrkräfte und mehr. Sie benötigen aber auch Begleitung durch Angebote im Netz.

Deshalb kommt m.E. dem Positiven Jugendmedienschutz, der Förderung der guten Angebote im Netz und vor allem den Bemühungen, diese aufindbar und sichtbar zu machen, eine große Bedeutung zu. Wir haben im deutschsprachigen Raum die sehr gute Situation, dass wir mit der Blinden Kuh, fragFINN und Helles Köpfchen drei Suchmaschinen für Kinder haben, die jede für sich einen eigenen Index aufgebaut hat und nach eigenen und also unterschiedlichen Kriterien Seiten in den Index aufnehmen. Daneben gibt es mehrere kindgerechte Einstiegsseiten, die es sich zum Ziel gemacht haben, Kindern einen Zugang zu der positiven Vielfalt im Netz zu schaffen (Seitenstark, Meine Startseite). Ich würde als Bedingung gerne auferlegen, dass die Macher von Suchmaschinen und anderer Einstiegsseiten für Kinder ins Netz stets das Internet in seiner Gesamtheit vor Augen haben. Auf dieses Netz, mit allem was dazugehört, müssen wir als Eltern, Medienpädagoginnen und -pädagogen etc., aber auch als Anbieter von sicheren Surfräumen und Portalseiten die Heranwachsenden vorbereiten. Dafür helfen uns digitale Schonräume wenig.

Neben dem Bestehenden sind künftig jedoch auch neue Formen denkbar und sicherlich notwendig, um kindgerechte Angebote für Kinder aufindbar zu machen und dabei die digitalen Praktiken von Kindern im Blick zu haben. Ich denke da an mehr Bewegtbildangebote und entsprechende Einbindung in Videosuchmaschinen, Website Rating-Modelle von Kindern für Kinder, von Eltern für Kinder, Eltern für Eltern, verfügbare, anpassbare Whitelists. Nicht vergessen werden dürfen die praktischen Zwänge im Nacken – eine durchaus kritische Anzahl bestehender Kinderwebsites kann derzeit mobil, also am Tablet oder Smartphone, nur stark eingeschränkt oder gar nicht genutzt werden. Mobiloptimierung kostet Geld und erfordert teilweise, dass Seiten komplett neu entwickelt werden müssen.

Vernetzung

Nach meiner Einschätzung beschränkt sich derzeit die Mehrzahl der Internetangebote für Kinder auf Informationsbeschaffung (1.0) statt sozialer Vernetzung. Das ist insofern unglücklich, als dass quasi sämtliche Studien darauf hinweisen, dass soziale Vernetzung im Netz mit das wichtigste Motiv der Onlinenutzung ist. Wenn ich die Situation von 2007 (als fragFINN startete) mit der von 2016 vergleiche, haben wir uns – korrigieren Sie mich – nicht gerade Siebenmeilenstiefel angezogen. Manche der ehemals größeren Community-Plattformen wurden sogar eingestellt, u.a. weil die Kosten für die Moderation sehr hoch sind. Es gibt mehrere Angebote, die soziale Erprobungsräume für Kinder bieten. Zum Beispiel: Knipsclub (Foto-Community, JFF – Institut für Medienpädagogik), Juki (Kinder-Videoplattform, Deutsches Kinderhilfswerk), die Community von Helles Köpfchen (Cosmos Media), Tausch-dich-it (Tauschbörse für Kinder, Tausch-dich-it), Seitenstark Chat (Medienpädagogik e.V.), Kidsville (Mitmachstadt im Netz, Kidsville), Radiofüchse (von Kindern für Kinder, Kinderglück e.V.). Es gibt Angebote für Kinder, die mit Krankheiten leben, wie die Zwischenstation (Löwenkind e.V.) und Angebote für Kinder, die trauern, wie das Kindertrauerland (Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche e.V.)

Der Wert dieser Angebote ist nicht hoch genug einzuschätzen, um Kindern soziale Vernetzungsmöglichkeiten zu bieten. Warum?

Punkt 1: Vernetztes Leben bedeutet eben auch zunehmend, selbst beeinlussbar zu sein, z.B. durch eine Auswertung des eigenen Verhaltens.

Punkt 2: Aktuelle Studien geben uns Hinweise, dass Vernetzung im Netz für Kinder über Soziale Netzwerke Stress mit sich bringt, zumindest bringen kann (vgl. Haddon/Vincent 2014), z.B.indem kommunikative Missverständnisse erzeugt werden, die sich oft eben nicht mit einem Emoji auflösen lassen.

Punkt 3: Es ist durchaus problematisch, sich bei der Heranführung von Kindern an Soziale Netzwerke allein auf die großen Anbieter zu verlassen. Jede große Monokultur erleichtert es, politisches Handeln weltweit zu verfolgen. Das ist nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen von Edward Snowden und Glenn Greenwald deutlich geworden (vgl. Greenwald 2014). Kindgerechte Communitys müssen gute Datenschutzbedingungen haben. Auch ein großer Anbieter kann theoretisch gute Datenschutzbedingungen haben. Möglicherweise sind jedoch dezentrale Konzepte vorzuziehen.

Sensibel ist dies gerade dann, wenn Kinder herangeführt werden, sich für ihre Rechte einzusetzen, sich einzumischen und zu beteiligen, kurz: erste politische Erfahrungen machen. Dann ist besondere pädagogische Begleitung und Absicherung notwendig, die Kinder davor schützen, manipuliert und – mit ihren Daten – "ausgewertet“ zu werden.

Ich habe großen Respekt vor dem, was viele derjenigen, die das Netz für Kinder gestalten, an oft freiwilliger Arbeit leisten. Aber gerade mit Blick auf die notwendigen sozial vernetzten Angebote muss man sagen: Das kostet immer Geld, das ist immer Aufwand. Daher lassen Sie mich über den Tellerrand schauen: Ich habe nur einen ungefähren Eindruck davon, an welchen Stellen in diesem Land Geld ausgegeben wird. Zuletzt war in einem bereits verabschiedeten Gesetzentwurf zum Verfassungsschutz des Bundes zu lesen, dass dieser mindestens 261 neue Planstellen für zentrale Datenverarbeitung erhält, 17 Millionen Euro jährliche Personalkosten einplant, nur für die dort vorgesehenen Ergänzungen.(1)

Alle sollten sich an dieser Stelle fragen, ob der artige Summen nicht auch dafür ausgegeben werden müssten, dass in aktiver medienpädagogischer Arbeit die Grundsätze von Demokratie und Freiheit vermittelt werden. Mir erscheint das mindestens ebenso wichtig. Es ist besser, Menschen nicht erst ins Abseits geraten zu lassen und sie durch gute Angebote frühzeitig zu Freunden von Demokratie und Freiheit zu machen. Das ist besser, als sie später durch Sicherheitsbehörden beobachten zu müssen.

Mitsprache und Beteiligung

Zum einen geht es also für Kinder um die Möglichkeit, sich zu informieren und sich untereinander zu vernetzen. Darüber hinaus sind auch die erweiterte Vernetzung und die Möglichkeit der Teilhabe an Netzwerken wichtig, die vielleicht nicht (nur) für Kinder gemacht wurden. Also wie, um den Punkt von vorhin nochmals aufzugreifen, kann man es fördern, dass die Parallelwelten zusammengebracht werden, wie wird Mitsprache hergestellt zu "der Politik“? Ich würde mich zum Beispiel freuen, wenn Kinder und Jugendliche auf Portalen substantiierte Antworten von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten erhalten würden oder mehr noch: in den Dialog treten könnten, so dass klar wird, dass Mitsprache ein Kinderrecht und kein Zugeständnis ist.

Ein anderer Punkt ist für mich bedeutsam: Die digitalen Praktiken von Kindern zeigen uns letztlich an, dass wir ihnen keinen Gefallen tun, uns allzu sehr in Kategorien von analog und digital einzurichten, geschweige denn ein "Digital ist besser“ auszurufen. Entscheidend ist vielmehr, dass wir es mit realen Orten in dem Sinne zu tun haben, als dass wir Kinder an den Orten treffen, wo sie mit ihren Interessen und Belangen gerne hingehen und mit uns Erwachsenen zu tun haben wollen. Ob das in Sozialen Netzwerken ist, auf Kinderwebsites, im Jugendzentrum der Stadt, in der Bibliothek, der Schule, der Gemeinde oder in Peer-Netzwerken, ist für medienpädagogische Arbeit letztlich unwesentlich.

Es gibt im Feld der politischen Medienbildung großartige lokal verankerte Projekte an Schulen, Bibliotheken, in den offenen Kinder- und Jugendeinrichtungen, Kitas, auch in FabLabs, MakerSpaces, in Hackathons. Es gälte für mich, verstärkt darüber nachzudenken, ob Projekte skalierbar sind nach oben und in die Breite.

Share, Remix und Reuse

Es kommt im Bildungsbereich derzeit Bewegung in das Thema OER – Open Educational Resources, also das Verfügbarmachen freier Bildungsmaterialien verbunden mit der Einladung, diese nicht nur zu nutzen, sondern auch weiterzuentwickeln und für den eigenen Kontext anzupassen.(2) Vielleicht gelänge uns dies auch für die Projekte, die wir im medienpädagogischen Feld anstoßen. Vorreiter haben wir ja: Ich freue mich nach wie vor, wenn morgens um sieben eine neue Nachricht vom Medienpädagogischen Praxisblog in meinem Postfach liegt. Und auf meinem Schreibtisch liegt das Handbuch zum kreativen digitalen Gestalten: "Making-Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen“ (Schön/Ebner/Narr 2016).

Fazit

Freiheit und demokratische Teilhabe hängen eng damit zusammen, seine Meinung frei äußern zu können. Dazu gehört in einer Demokratie auch, seine Meinung öffentlich kundzutun. Kinder sollen ihre Meinung sagen dürfen, wenn es um Angelegenheiten geht, die sie betreffen. Positiv gedacht ist das heute mehr denn je möglich und wir sollten uns anstrengen, Kinder auch dazu zu ermutigen. Das bedeutet für mich:

  • Wenn wir Kinder an Freiheit heranführen wollen, müssen wir ihnen auch Freiheit lassen und ihnen den Umgang mit einer zu Teilen unsicheren, unkanalisierten und unsortierten Welt der Dinge zutrauen. Daneben stärken wir Kinder, wenn wir ihnen Erprobungsräume für soziale Vernetzung anbieten können.
  • Wir können als Medienpädagoginnen und Medienpädagogen Kinder unterstützen, mit "Parallelwelten“, die für ihre Zukunft wichtig sind (wie die Politik), in Kontakt zu treten.
  • Wir sollten unsere Arbeit nicht in eine Schublade "Unterabteilung Medienkompetenzförderung“ packen oder packen lassen. Unter dem Eindruck von Mediatisierung der Gesellschaften sind wir mehr denn je gefragt, unsere Erfahrungen, Leitideen und Konzepte auch außerhalb der medienpädagogischen Community einzubringen.

Anmerkungen

(1) Abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/046/1804654.pdf [Stand: 26.03.2016], S. 19f.

(2) Siehe z.B. http://open-educational-resources.de/ [Stand: 26.03.2016].

Literatur

Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2015): Jugend 2015. 17. Shell Jugendstudie. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag.

Arnold, Nina/Fackelmann, Bettina/Grafius, Michael/Krüger, Frank/Talaska, Stefanie/Weißenfels, Tobias (2011): Sprichst du Politik. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Politik und Gesellschaft. Abrufbar unter: http://www.sprichst-du-politik.de/downloads/sprichst-du-politik_Studie.pdf [Stand: 26.03.2016].

BMFSFJ (2015): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut (deutsch). Abrufbar unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/_C3_9Cbereinkommen-_C3_BCber-die-Rechte-des- Kindes,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [Stand: 26.03.2016].

Common Sense (2015): The Common Sense Census: Media Use by Tweens and Teens. Abrufbar unter: https://www.commonsensemedia.org/research/the- common-sense-census-media-use-by-tweens-and-teens [Stand: 26.03.2016].

Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (2012): Milieustudie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet. Abrufbar unter: https://www.divsi.de/divsi-milieu-studie [Stand: 26.03.2016].

Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (2015): DIVSI U9-Studie: Kinder in der digitalen Welt. Abrufbar unter: https://www.divsi.de/publikationen/studien/divsi-u9-studie-kinder-der-digitalen-welt/5-kinder-und-das-internet/5-1-wann- und-wie-kinder-das-internet-wahrnehmen-und-nutzen/ [Stand: 26.03.2016].

Greenwald, Glenn (2014): Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen. München: Droemer.

Haddon, Leslie/Vincent, Jane (Hrsg.) (2014): European children and their carers’ understanding of use, risks and safety issues relating to convergent mobile media. Report D4.1. Milano: Unicatt.

Holloway, Daniel (2014): Digital Play: The challenge of researching young children’s Internet use. Conference Paper ANZCA, Melbourne. Abrufbar unter: http://ro.ecu.edu.au/ecuworkspost2013/768/ [Stand: 26.03.2016].

Ito, Mizuko/Baumer, Sonja/Bittanti, Matteo/Boyd, Danah/Cody, Rachel/Herr-Stephenson, Becky/Horst, Heather A./Lange, Patricia G./Mahendran, Dilan/Martínez, Katynka Z./Pascoe, C. J./Perkel, Dan/Robinson, Laura/ Sims, Christo/Tripp, Lisa et al. (2010): Hanging Out, Messing Around, and Geeking Out: Kids Living and Learning with New Media. Cambridge, MA: MIT.

Ito, Mizuko/Horst, Heather/Bittanti, Matteo/Boyd, Danah/Herr-Stephenson, Becky/Lange, Patricia G./Pascoe, C.J. et al. (2008): Living and Learning with New Media: Summary of Findings from the Digital Youth Project. Chicago: The MacArthur Foundation.

OFCOM (2014): Children’s Media Lives Study. Year 1 Findings. Abrufbar unter: http://stakeholders.ofcom.org.uk/binaries/research/media-literacy/childrens-media-lives-year-1/childrens_media_lives_report_FINAL1.pdf [Stand: 26.03.2016].

OFCOM (2015): Children and Parents. Media and Attitudes Report 2015. Abrufbar unter: http://stakeholders.ofcom.org.uk/binaries/research/media-literacy/children-parents-nov-15/childrens_parents_nov2015.pdf [Stand: 26.03.2016].

Schön, Sandra/Ebner, Martin/Narr, Kristin (Hrsg.) (2016): Making-Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen. Handbuch zum kreativen digitalen Gestalten. Norderstedt: Book on Demand. Abrufbar unter: http://bit.do/handbuch [Stand: 26.03.2016].

Lizenz

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Quelle

Marion Brüggemann, Thomas Knaus, Dorothee M. Meister (Hrsg.), Kommunikationskulturen in digitalen Welten - Konzepte und Strategien der Medienpädagogik und Medienbildung, Schriften zur Medienpädagogik 52, München 2016, S. 143 - 154