Horst Niesyto, Keine Bildung ohne Medien - Bildungsprozesse unter den Bedingungen medialer Beschleunigung.

Vortrag auf den 33. Stuttgarter Tagen der Medienpädagogik, 21. April 2010

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,
das Thema meines Vortrags nimmt Bezug zur Initiative Keine Bildung ohne Medien!, die im vergangenen Jahr ein Medienpädagogisches Manifest veröffentlichte. In diesem Manifest wird eine nachhaltige Verankerung von Medienpädagogik in allen Bildungsbereichen gefordert. Inzwischen haben 70 Professorinnen und Professoren und weitere 800 Personen und Organisationen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen das Manifest unterzeichnet.

Wir leben in einer Wissens- und Mediengesellschaft. In bildungspolitischen Proklamationen wird der Erwerb von Medienkompetenz gebetsmühlenhaft als eine Schlüsselkompetenz bezeichnet. Es mangelt jedoch an überzeugenden bildungspolitischen Rahmenbedingungen – es klafft nach wie vor eine große Lücke zwischen den Proklamationen und der empirischen Wirklichkeit. Leider ist die Medienpädagogik in Deutschland - trotz zahlreicher Einzel- und Modellprojekte - in der Breite gesehen noch nicht fest in den Bildungsbereichen verankert. Dies betrifft die frühkindliche Bildung und Erziehung, den schulischen Bereich, den außerschulischen Bereich, inklusive die Erwachsenen- und Seniorenbildung. Dies betrifft auch die Verknüpfung von informellen Lernorten, gerade im Internet, mit Angeboten der formalen und non-formalen Bildung.

In Zusammenhang mit dem Thema der diesjährigen Stuttgarter Tage der Medienpädagogik möchte ich in meinem Beitrag einen Aspekt herausgreifen, der aus meiner Sicht die Dringlichkeit einer breiten Medienkompetenzförderung unterstreicht – die kritische Auseinandersetzung mit Formen medialer Beschleunigung in unserer Gesellschaft und damit verbundenen Herausforderungen für Bildungsprozesse. In einem ersten Teil möchte ich darlegen, was ich unter "Bildung" verstehe und welche Bedeutung Medien dabei haben. In einem zweiten Schritt werde ich auf Merkmale der sozialen und medialen Beschleunigung eingehen und diese kritisch diskutieren. Hieraus ergeben sich dann Schlussfolgerungen für die Medienkompetenzförderung.

1. Was verstehe ich unter "Bildung"? Welche Bedeutung haben Medien hierbei?

Bildung ist ein Leitbegriff der Erziehungswissenschaft mit einer langen historischen Geschichte und einem breiten Spektrum an theoretischen Konzeptualisierungen. Für mich ist die Frage, was Bildung ausmacht, untrennbar mit der Frage nach der gesellschaftlichen Verfasstheit von Menschen verknüpft, nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der Perspektive von Gesellschaftsfähigkeit und Emanzipation. Der Humboldtsche Ansatz der Allgemeinbildung beharrt – wie der Pädagoge Heinz Sünker ausführt – auf der "Widerständigkeit von Subjekten gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber, die sie zu übergreifen suchen" (Sünker 2001, S. 164). Dieser Ansatz grenzt sich von utilitaristischen Auffassungen ab, die die Zurichtung von Menschen im Sinne von "Verwendungstauglichkeit" intendieren, und eröffnet eine Perspektive, über den Status quo hinauszudenken. Humboldts Ansatz der Allgemeinbildung verweist auf die Gesellschaftlichkeit des Individuellen und zielt auf eine Bildung für alle als Basis für die Möglichkeit von Selbstverwirklichung ab.

Der Pädagoge Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974) knüpfte an Humboldts Ansatz an. Für ihn war Bildung eine "entbundene Selbsttätigkeit", eine "Selbstverfügung", in welcher der Mensch als Subjekt in seine eigene Geschichte eintritt. Bildung sei die Befähigung des Menschen zur gesellschaftlichen Arbeit und zum politischen Handeln, aber auch zur ästhetischen Erfahrung, in welcher der Mensch sich selbst vergegenwärtige. Heydorn ging von der Dialektik von institutionalisierter Bildung und menschlicher Selbstbildung aus und betonte die Notwendigkeit von Distanzierungsmöglichkeiten und zur Ausbildung von Widerstandspotentialen gegenüber gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen. Bildung im Sinne von "educatio" bedeutet für ihn nicht "Züchtigung" und "Unterweisung", sondern "Hinausführung" als ein Prozess entbundener Selbsttätigkeit und vollzogener Emanzipation (vgl. Sünker 2001, S. 163 f.).

In dieser Perspektive lässt sich Bildung allgemein als selbstreflexiver Lern- und Orientierungsprozess fassen, der nicht – wie Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen betonen – auf ein bestimmtes Ergebnis oder einen bestimmten Zustand abzielt, sondern darauf, "vorhandene Strukturen und Muster der Weltaufordnung durch komplexere Sichtweisen auf Welt und Selbst" zu ersetzen (Marotzki/ Jörissen 2010, S. 19). Im Weiteren unterscheiden Marotzki und Jörissen Lernen und Bildung. So ziele Lernen im klassischen Verständnis auf die Herstellung von Verfügungswissen, Bildung auf die Herstellung von Orientierungswissen ab. Informationen zu erhalten und zu verarbeiten sei nicht identisch mit Bildung. Zu Bildungsprozessen gehöre unverzichtbar die reflexive lebensweltliche Integration dieser Informationen in die Selbst- und Welthaltungen der Subjekte. Dies impliziere die Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber vorhandenen Strukturen und Mustern der Weltaufordnung (ebd., S. 22f.).

Medien sind heute integraler Bestandteil des Alltags der Menschen. Dies betrifft sowohl die klassischen Massenmedien als auch die vielfältigen Formen der neuen, digitalen Informationstechnologien. Die Verschmelzung der alten und der neuen Medien, ihre zeit- und ortsunabhängige Verfügbarkeit sowie der Zugriff zum Internet eröffnen den Menschen neue Lernund Erfahrungsbereiche. Darüber hinaus liefern Medien wichtige Deutungsangebote, Identifikations-, Orientierungs- und Handlungsräume. Sie sind eine kontinuierlich verfügbare Ressource für Identitätskonstruktionen von Heranwachsenden. Medienangebote gehören zu den Strukturen und Mustern der Weltaufordnung. Ihr aktiver Gebrauch –insbesondere der Selbstausdruck und die Kommunikation mit Medien – eröffnen Möglichkeiten zur Artikulation eigener Sichtweisen, zur Auseinandersetzung mit Fremdheitserfahrungen und zur Teilhabe an gesellschaftlichen Öffentlichkeiten.

Bei den Theorien zur Mediennutzung und Mediensozialisation haben sich vor allem handlungstheoretische Ansätze etabliert, die – ausgehend vom Wechselverhältnis von Mensch und Medien – besonders nach den sozialen und soziokulturellen Implikationen der Medienaneignung fragen. Diese handlungstheoretischen Ansätze beziehen sich auch auf das Theorem der para-sozialen Interaktion (zuerst: Horton/ Wohl 1956). Dieses Theorem bezeichnet das distanzierte Miterleben des Mediennutzers als "In-lusion" und stellt es der "Il-lusion" gegenüber. Diese "Über-Perspektivität" umfasst die Fähigkeit, die in den Medien erlebten Handlungsmuster nachzuvollziehen, sich in sie hinein zu versetzen (role-taking) und sie zu den jeweils eigenen Handlungsentwürfen in Beziehung zu setzen und für sich verfügbar zu machen (rolemaking). Es geht um das Gewinnen neuer Perspektiven für eigene Lebenssituationen und soziale Deutungsmuster, um Prozesse des reflexiven Vergleichens und Neu-Interpretierens von Erfahrungsbeständen.

Der Medienpsychologe Michael Charlton betont, dass reflexive Distanz unverzichtbar die Fähigkeit voraussetzt, sein eigenes Handeln vom Standpunkt des anderen aus zu betrachten. Er plädiert in diesem Zusammenhang für eine Forschung, die sich weniger der Frage widmet, "in welchem Ausmaß das Publikum gegenüber Medienangeboten autonom handeln kann"; vielmehr müsse untersucht werden, "wie der Rezipient sich dem Text hingibt bzw. entzieht" (Charlton 1997, S. 29). Gerade die Überschätzung der Möglichkeiten zu einem medien3 autonomen Handeln scheint mir ein kritischer Punkt bei neueren Mediensozialisationsstudien zu sein. Dies betrifft insbesondere die Überschätzung der Distanzierungsmöglichkeiten des Subjekts sowie die mangelnde Auseinandersetzung mit dominanten Leseweisen auf dem Hintergrund medien-ästhetischer Formatierungsprozesse. Aus Alltagserfahrungen und zahlreichen Studien ist bekannt, dass Wahlfähigkeit und Distanzierungsfähigkeit in hohem Masse an kulturelle und soziale Ressourcen gebunden ist, die in unserer Gesellschaft nach wie vor höchst unterschiedlich verteilt sind.

Dieser Punkt verweist auf Fragen sozialer Benachteiligung. Formen sozialer Benachteiligung im Mediengebrauch werden vor allem dann sichtbar, wenn vorhandene Ressourcen nicht ausreichen, um Medien reflexiv für Bildungsprozesse zu nutzen. Familiäre und andere Anregungsmilieus, insbesondere die Angebotsstruktur von Bildungsinstitutionen, spielen hier eine wichtige Rolle. Medien sind nicht Verursacher sozialer Ungleichheit – sie können aber als Verstärker wirken. Wenn z.B. in vielen Familien Kinder bei ihrem Mediengebrauch nicht aktiv begleitet werden, wenn Erzieher und Erzieherinnen in Kindergärten keine altersgemäßen Angebote zur Verarbeitung von Medienerfahrungen machen oder wenn Lehrkräfte an Schulen Alltagsmedienkompetenzen von Schülerinnen und Schüler nicht in den Unterricht integrieren – dann ist dies für Kinder und Jugendliche ein Benachteiligungsfaktor.

Neben geeigneten Anregungsmilieus benötigen Bildungsprozesse schlichtweg genügend Zeit. Dies betrifft alle Akteure, die an Bildungsprozessen beteiligt sind. Zeit für Kommunikation, für Reflexion, für Distanzerfahrungen, auch Zeit für den Aufbau und die Entwicklung personaler und pädagogischer Beziehungen, um Aufgaben der Bildung und Erziehung wahrnehmen zu können. Einen Gegenstand, ein Thema, ein Medienangebot, eine Situation aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, setzt Zeit für Erkundungen, für Experimentieren, für Nachdenken voraus. Der amerikanische Pädagoge John Dewey (1859-1952) sprach in Zusammenhang mit Projektarbeit und Erfahrungslernen von "denkender Erfahrung". In Verbindung mit dem Slogan "learning by doing" wird Dewey leider oft verkürzt wiedergegeben. Es ging ihm nicht allein um praktisch-handwerkliches, sinnliches Tun. Für ihn war auch "denkende Erfahrung" ein konstitutiver Bestandteil von Erfahrungslernen. Er betonte immer wieder die Notwendigkeit, Erlebnisse zu verarbeiten, zu reflektieren, um aus sinnlichen Eindrücken ganze Erfahrungen bilden zu können (Dewey 19341/ 1988).

Erfahrungsbildung hat zwei wesentliche Quellen: Die sinnlichen Erfahrungen, die wir mit der natürlichen und sozialen Umwelt machen, und die inneren Erfahrungen, die sich in Auseinandersetzung mit unseren Vorstellungen, Phantasien und Gefühlen bilden. Ganzheitlich meint das Zusammenspiel von sinnlichen Eindrücken, emotionaler Aufnahme und denkender Verarbeitung. Denkerfahrungen haben für Dewey ästhetischen Charakter - sie sind Wahrnehmungsprozesse, die in Verbindung mit Reflexionen zu einem gewissen Entwicklungsabschluss, zu einer Reifung kommen. Hierzu gehört es, Widerstände zu überwinden, Spannungen auszuhalten, um Neues hervorzubringen. Es geht um Prozesse der symbolischen Verarbeitung von Eindrücken, um ästhetische Reflexivität - nicht um beliebiges, zusammenhangloses Antippen und Vorbeihuschen.

Der Pädagoge Christoph Wulf formulierte in Bezug auf Bilder in diesem Zusammenhang: "Reflexiver Umgang mit Bildern bedeutet nicht: Reduktion des Bildes auf seine Bedeutung, sondern meint: das Bild ‘rückwärts biegen’, es ‘drehen’, es ‘umwenden’ (...), es vor schnellen Deutungen schützen, durch die es in Sprache und Bedeutung transformiert, jedoch als Bild ‘erledigt’ wird" (Wulf 2001, S. 137). Dazu gehöre es, Unsicherheit, Vieldeutigkeit, Komplexität auszuhalten, ohne Eindeutigkeiten herstellen zu wollen: "Das ‘Auftauchen’ eines Bildes ist der erste Schritt, es festhalten, an ihm arbeiten, es in der Fantasie zur Entfaltung bringen sind weitere Schritte eines bewussten Umgangs mit Bildern" – so Wulf (ebd., S. 138). Diese Form ästhetischer Reflexivität benötigt u.a. Zeit.

Damit sind wir an einem zentralen Punkt angekommen: Wie ist es unter Bedingungen einer enormen sozialen und medialen Beschleunigung möglich, Bildungsprozesse zu fördern, die Distanz- und Denkerfahrungen, die Formen ästhetischer Reflexivität umfassen? Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, sich zentrale Merkmale der gegenwärtigen sozialen und medialen Beschleunigung bewusst zu machen.

2. Merkmale sozialer und medialer Beschleunigung und ihre Bedeutung für Bildungsprozesse

Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa veröffentlichte 2005 eine Abhandlung zum Thema Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Er setzt sich darin umfassend mit den Phänomenen gegenwärtiger sozialer Beschleunigung und ihren Ursachen auseinander und entwickelt verschiedene gesellschaftliche Szenarien zum Umgang mit sozialer Beschleunigung. In seinem theoretischen Grundgerüst unterscheidet Rosa drei zentrale Dimensionen sozialer Beschleunigung:

Erstens die technische Beschleunigung, die er vor allem auf die schnellere Produktion und Distribution von Gütern und Informationen bezieht. Er verweist u.a. auf die digitalen Technologien, die Informationen in Lichtgeschwindigkeit, in Echtzeit weltweit zugänglich zu machen.

Zweitens ist es nach Rosa die Beschleunigung des sozialen Wandels. Darunter versteht er das Tempo, mit dem sich Praxisformen, Handlungsorientierungen und Beziehungsmuster verändern. Er spricht von einer "Gegenwartsschrumpfung" und einer "Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen" (Rosa 2005, S. 133). Während die technische Beschleunigung als eine Beschleunigung in der Gesellschaft zu verstehen sei, handele es sich bei der sozialen Beschleunigung um eine Beschleunigung der Gesellschaft. Damit verbunden sei, so Rosa, eine wachsende Instabilität der Zeithorizonte.

Schließlich analysiert Rosa als dritte Dimension die Beschleunigung des Lebenstempos. Hierzu zählt er Phänomene wie die Verkürzung oder Verdichtung von Handlungsepisoden pro Zeiteinheit, die Zunahme von Multitasking und damit verbundenen Empfindungen der Zeitnot, des Zeitdrucks, eines stressförmigen Beschleunigungszwangs und der Angst, nicht mehr mitzukommen (ebd., S. 135 ff.).

Hartmut Rosa setzt sich des Weiteren mit Wechselbeziehungen zwischen diesen drei Dimensionen sowie mit Gegenbewegungen der Entschleunigung auseinander. Für die zukünftige Entwicklung prognostiziert er als wahrscheinlichste Möglichkeit das ungebremste Weiterlaufen der Beschleunigungsprozesse in einen Abgrund und den Verlust der Fähigkeit, Bewegung und Beharren zu balancieren. Als Alternative zu einer finalen Katastrophe sieht Rosa die Aufgabe, den der Gesellschaftsordnung immanenten Tendenzen entgegenzuwirken (ebd., S. 460 ff.). Näheres führt er nicht aus. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Analyse von Rosa systematisch auf die Frage zu beziehen, welche Auswirkungen soziale Beschleunigung für Bildungsprozesse haben. Ich kann dies an dieser Stelle nur andeuten und möchte ich mich auf Aspekte medialer Beschleunigung im Hinblick auf Bildungsprozesse konzentrieren.

Rosa spricht an einer Stelle davon, dass die zunehmenden Kurz-Kurz-Muster der Zeitwahrnehmung dazu führen, dass Erlebnisse episodisch bleiben und nicht mehr miteinander, mit der Geschichte und der je eigenen Identität verknüpft werden. Im Ergebnis beginne die Zeit gewissermaßen an beiden Enden zu rasen: "Während der als kurzweilig (und oft als stresshaft) empfundenen Aktivitäten vergeht sie sehr rasch, doch zugleich scheint sie im Rückblick zu ‘schrumpfen’, weil sie kaum Erinnerungsspuren hinterlässt". "Die durch das Kurz-Kurz- Muster gekennzeichnete Gesellschaft" – so sein Fazit an dieser Stelle – "könnte sich daher als eine gleichermaßen erlebnisreiche wie erfahrungsarme Gesellschaft erweisen" (ebd., S. 470).

Dieser Hinweis ist es wert, näher untersucht zu werden. Noch gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die die Untersuchung von Reflexionsformen unter den Bedingungen sozialer und medialer Beschleunigung zum Gegenstand haben. Ohne solche Studien besteht die Gefahr, medienzentriert Beziehungen zwischen Formen medialer Beschleunigung und Formen der Reflexion herzustellen. Ein Blick zurück zeigt, dass medienzentrierte Analysen die Verarbeitungsleistungen der Subjekte zu wenig im Blick hatten. Dies war der Fall bei Günther Anders’ und Neill Postmans Kritik am Fernsehen, aber auch bei Paul Virilios Visionen zum "Rasenden Stillstand" in der Medienmoderne. Auch Herta Sturms Analyse der "fehlenden Halbsekunde" berücksichtigte zu wenig die Veränderbarkeit menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit. Menschliche Wahrnehmung hat zwar physiologische Rahmenparameter, sie ist jedoch kulturell wandelbar.

Zweifelsohne reicht es heute nicht mehr aus, allein auf sozial-kognitive Akte bei Prozessen der para-sozialen Interaktion hinzuweisen – sozial-emotionale und sozial-ästhetische Dimensionen sind mindestens ebenso wichtig. Das Symbolsystem (Wort)Sprache ist eng mit nonverbalen Symbolsystemen verknüpft. Symbolisches Probehandeln in Medienräumen ist nicht möglich, ohne Verstehen diskursiver und präsentativer Ausdrucks- und Kommunikationsformen; medienästhetische Reflexivität lässt sich nicht auf Verbalisierungsfähigkeit reduzieren. Hinzu kommt bei den digitalen Medien die neue Qualität, die bisherige Formen der parasozialen Interaktion überschreiten: Es geht um eine direkte Kommunikation, die zwar nicht im Modus einer räumlich-physischen face-to-face-Kommunikation stattfindet, aber interaktive Möglichkeiten der Produktion, des Austauschs, der Reflexion von Kommunikaten umfasst.

Unter diesem Vorbehalt, dem Fehlen aktueller empirischer Studien zu Formen der Reflexion unter den Bedingungen medialer Beschleunigung, möchte ich nun umreißen, was ich unter medialer Beschleunigung verstehe. In Anlehnung an Hartmut Rosa ordne ich mediale Beschleunigung zunächst dem Bereich der technischen Beschleunigung zu. Hierzu gehören Phänomene wie z.B.

  • Die explosionsartige Zunahme digitaler Speicherkapazitäten und das damit verbundene, exponentielle Wachstum an digital verfügbarer Information;
  • Die netzbasierte, interaktive, weltweite Kommunikation in Echtzeit, z.B. in Form von emails, twitter-Meldungen oder skype-Konferenzen;
  • Die periodische Beschleunigung bei der Produktion neuer Informationen, Themen und Einträgen, z.B. bei Wikipedia.

Mit der medialen Beschleunigung verbinden sich aber auch Phänomene des sozialen Wandels von Narrationsstrukturen und Beziehungsmustern. So verflüchtigen sich in der Netzöffentlichkeit zunehmend lineare Erzählstrukturen; es gibt neue Formen kollaborativer Wissensproduktion, die eine individuelle Zuordnung von Autorenschaft überschreiten; in social networks eröffnen sich Kontakte jenseits von Möglichkeiten im stofflich-physischen Nahraum. Mit diesem Phänomen verknüpft sind eine Instabilität der Zeithorizonte und eine Beschleunigung des Lebenstempos, wie es Rosa in seiner dritten Dimensionen beschreibt.

Hier setzt im Übrigen auch die aktuellen Buchpublikation Payback von Frank Schirrmacher an. Der Mitherausgeber der FAZ benennt Phänomene wie z.B. den zunehmenden Zwang zu Gleichzeitigkeit und Multitasking, die damit verbundenen Tendenzen zur Veroberflächlichung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit oder die Zunahme von Routinen und Automatismen zuungunsten einer selbstreflexiven Verarbeitung von Informationen. Schirrmacher plädiert dafür, diesen Tendenzen eigenes Denken und Perspektivwechsel entgegenzusetzen und zu lernen, mit Ungewissheiten umzugehen. In einem Kapitel über die "Zukunft der Bildung" plädiert er dafür, ein "neues Verhältnis zwischen Wissensgedächtnis und Denken zu etablieren" (Schirrmacher 2009, S. 211) und die eigene Intuition und den eigenen Willen zu gebrauchen, um Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und eigenes Denken zu entwickeln.

Man kann und muss Schirrmacher kritisieren, wenn er z.B. in seinem Buch kreative Nutzungsmöglichkeiten digitaler Kommunikation nur randständig erwähnt. Gleichwohl bleibt die Aufgabe, nach Zusammenhängen zwischen Formen medialer Beschleunigung und subjektiven Verarbeitungsweisen von medialen Artefakten zu fragen. Hier konnte in der Vergangenheit insbesondere die Mediensozialisationsforschung die Relevanz vorhandener Dispositionen für die Art und Weise der Medienaneignung herausarbeiten. Zu diesen Dispositionen gehören – neben alters- und geschlechtsbezogenen Faktoren – vor allem biografische, kulturelle, soziale und bildungsbezogene Faktoren. So konnten verschiedene Studien deutliche Zusammenhänge zwischen dem formalen Bildungsgrad und dem Grad eines differenzierten und reflektierten Medienumgangs belegen. Allerdings ist darauf zu achten– und dies möchte ich kritisch z.B. gegenüber der Wissenskluft-Hypothese anmerken – dass die Kriterien für "Informiertheit" und Reflexion sich nicht an bildungsbürgerlichen Normen orientieren sollten, sondern der Tatsache gerecht werden müssen, dass es unterschiedliche Wissensarten und Wissensbestände gibt und dass nicht nur kognitive, sondern auch emotionale und ästhetische Aspekte mit Reflexionen verbunden sind (vgl. Moser/ Niesyto 2009).

Unabhängig von der Frage milieuspezifischer Wissensbestände und Reflexionsformen halte ich es für eine der zentralen Aufgaben in der heutigen Wissens- und Mediengesellschaft, das eigenständige Denken in Zusammenhängen zu fördern. Die mobile digitale Kommunikation hat zwar entscheidend dazu beigetragen, dass der Zugang zu Informationen für sehr viele Menschen besser geworden ist und dass z.B. Informationen, deren öffentliche Verbreitung von Machteliten nicht erwünscht ist, heute mitunter sehr schnell ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass Prozesse der Fragmentierung von Wissen und Bewusstsein zugenommen haben. Angesichts einer episodischen Aufmerksamkeitserregungskultur wird es immer schwieriger, orientierende Zusammenhänge zu stiften. Dies ist meines Erachtens unverzichtbar für ein Bildungsverständnis, wie ich es zu Beginn darlegte.

Die episodische Aufmerksamkeitserregungskultur untergräbt die Ausbildung von Fähigkeiten zu einer bewussten Verarbeitung von Ungewissheiten – Michael Klebl und Timo Borst (2010) nennen es "Risikokompetenz" – sowie zu einem bewussten Perspektivwechsel als wichtige Voraussetzung für Selbstbildung. Diese Aufmerksamkeitserregungskultur scheint aber gerade ein Attraktionspunkt für Leute wie Bruce Sterling zu sein. Die FAZ bot dem usamerikanischen Science-Fiction-Darsteller neulich mehrere Spalten in ihrer Zeitung, um seine Einschätzung von einer "Zeitlosigkeit", einer "atemporalen Situation" zu verbreiten (Sterling 2010). Unter Hinweis auf die asynchronen, globalisierten Kommunikationsformen glaubt Sterling das Ende der Geschichte, konkreter Interessen und Machstrukturen und das Heraufziehen neuer kreativer Potenziale zeitloser Artikulationen diagnostizieren zu können. Ganz im Gegensatz hierzu gehe ich keineswegs von einer Auflösung gesellschaftlicher Machtstrukturen durch die neuen Netzkulturen aus. Nicht nur die Produktion und Weitergabe von Datenprofilen und die sich abzeichnende Verfestigung von Systemgrenzen bei Softwarekompetenten weisen auf die "Schwerkraft" ökonomischer und politischer Interessen hin. Es ist eine Illusion zu glauben, dass den digitalen Technologien eine Kraft innewohnt, die gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsstrukturen auflöst.

Vielmehr kommt es darauf an, beharrlich daran zu arbeiten, die Menschen zu befähigen, selbstbewusst mit digitalen Technologien umzugehen. Mit Blick auf die Medienkompetenzförderung möchte ich abschließend hierzu fünf Punkte hervorheben.

  1. Die Fähigkeit zu Reflexion, Distanzierung und Perspektivenwechsel setzt Formen der Medienkompetenzförderung voraus, die genügend Zeit für Bildungsprozesse mit und über Medien lassen. Auf Kurzfristigkeit angelegte Projekte und Produktionen dienen diesem Zweck – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt. Was wir brauchen, sind erheblich mehr Mittel für medienpädagogisch geschultes Personal und den Aufbau nachhaltiger Infrastrukturen. Medienpädagogen brauchen Zeit, um mit Kindern und Jugendlichen Prozesse einer Erfahrungsproduktion mit Medien zu befördern.
  2. Einerseits kommt es darauf an, an den vorhandenen Bedürfnissen, Themen und Erfahrungsbeständen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Bildungsprozessen anzuknüpfen. Das "Hochkochen" vorhandener Erfahrungsbestände reicht aber nicht aus. Notwendig sind pädagogische Arrangements von (medialen) Erfahrungsräumen, die Gelegenheiten zu produktiven Irritationen und Reflexionen bieten. Die Förderung einer Kultur der Aufmerksamkeit und der Achtsamkeit, des Respekts vor Anderen ist hierfür unverzichtbar.
  3. Vorhandene Alltagsmedienkompetenzen von Kindern und Jugendlichen sind in formale Lern- und Bildungsangebote zu integrieren. Hierfür bedarf es qualifizierter Pädagogen, die sich kritisch mit der eigenen Mediensozialisation auseinandersetzen und nicht den eigenen medialen Geschmack zur Grundlage für die Auseinandersetzung mit Medienkulturen von Kindern und Jugendlichen machen. Eine medienpädagogische Grundbildung aller pädagogischen Fachkräfte ist in der heutigen Wissens- und Mediengesellschaft unverzichtbar. Es geht nicht um die Vermittlung eines festen Kanons von Verfügungswissen, sondern um die Bewusstmachung der grundlegenden Medialität heutiger Bildungsprozesse sowie um die Befähigung, situativ und zielgruppenspezifisch medienpädagogische Arrangements entwickeln zu können.
  4. Medienbezogene Reflexionsprozesse sollten eine Verengung auf verbale Kognitionsleistungen überschreiten. Gerade für Kinder und Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Milieus ist es wichtig, im Rahmen handlungsorientierter Projekte aus dem Modus der Produktion heraus auf anschaulicher und konkreter Grundlage Fähigkeiten zum Vergleich, zur Analyse, ästhetischen Geschmacksbildung und zur Medienkritik zu fördern.
  5. Konzepte zur Medienkompetenzförderung sollten stärker berücksichtigen, wie die Menschen Medien im konkreten Kontext ihrer Lebenslagen und Lebensbedürfnisse nutzen und welche pragmatischen Medienkompetenzen sie hierfür ausbilden. Es geht um ein Verständnis, das die Verarbeitungsleistungen der Subjekte - ihre persönlichen, "inneren" Ressourcen - in Zusammenhang mit den jeweils vorhandenen sozialen Lebenslagen und Anregungsmilieus – den "äußeren" Ressourcen - betrachtet. Professionelle Medienkompetenzkonzepte sollten stets ihre – impliziten und expliziten – normativen Orientierungen hinterfragen, um Formen einer milieusensiblen Medienpädagogik entwickeln zu können.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" (2005) hinweisen, die u.a. fordert: "Öffentliche Zugangsorte und die Vermittlung von Medienkompetenz tragen dazu bei, dass alle Menschen in die Lage versetzt werden, sich in der Vielfalt medialer Angebote zu orientieren, ihre Inhalte zu bewerten, eigene Inhalte zu produzieren und für die persönliche Lebensführung sinnvoll zu nutzen".

Erlauben Sie mir zum Schluss zwei kurze Bemerkungen. Als Sprecher der Initiative Keine Bildung ohne Medien! möchte ich Sie einladen, das Medienpädagogische Manifest durch eine Unterschrift zu unterstützen. Die Initiative bereitet derzeit einen größeren bildungspolitischen Kongress vor, der im Frühjahr 2011 in Berlin stattfinden soll. Nähere Informationen, auch zum Mitmachen, finden Sie auf der Homepage www.keine-bildung-ohne-medien.de.

Wir alle wissen: Es ist ein Bohren sehr dicker Bretter, um bei der nachhaltigen Verankerung von Medienkompetenzförderung voranzukommen. Hierzu eine erfreuliche Nachricht: An der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg gibt es inzwischen eine verbindliche medienpädagogische Einführungsveranstaltung für alle Studierenden in den neuen BA-Studiengängen Frühe Bildung und Erziehung, in dem BA Bildungswissenschaft/ Lebenslanges Lernen sowie in dem BA Kultur- und Medienbildung. Seit Beginn dieser neuen Regelung haben etwa 300 Studierende an diesen Einführungsveranstaltungen teilgenommen. Wir hoffen, dass sich auch bei der anstehenden Neustrukturierung der Lehramtsausbildung Ähnliches realisieren lässt.

Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass auch in Baden-Württemberg neben der Förderung von Einzelprojekten und Informationsangeboten über Internetplattformen auf Dauer solche medienpädagogischen Infrastrukturen geschaffen werden, die eine Medienkompetenzförderung von allen Kindern und Jugendlichen ermöglichen und die auch insbesondere jene Erwachsenen, Eltern und Familien erreichen, deren soziale Lebensverhältnisse nicht einfach sind. Jeder von uns ist gefragt und aufgefordert, in der eigenen Praxis das zu tun, was möglich ist. Wir brauchen zwar erheblich bessere Rahmenbedingungen – aber wir selbst sind alle auch Akteure und haben eine Verantwortung.

Literatur

  • Charlton, Michael (1997): Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft. In: M. Charlton / S. Schneider (Hrsg.): Rezeptionsforschung. Opladen: S. 16- 39.
  • Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft (2005). URL: http://www.worldsummit2005.de/download_de/Charta-Flyer-deutsch.pdf
  • Dewey, John (19341/ 1988): Kunst als Erfahrung. Frankfurt/Main.
  • Horton, Donald/Wohl, R. Richard (1956): "Mass Communication and Para-Social Interaction". In: Psychiatrie 19:3, S. 215-229.
  • Klebl, Michael/ Borst, Timo (2010): Risikokompetenz als Teil der Medienkompetenz – Wissensformen im Web 2.0. In: Herzig, Bardo/ Meister, Dorothee M./ Moser, Heinz/ Niesyto, Horst (Hg.): Jahrbuch Medienpädagogik 8. Medienkompetenz und Web 2.0. Wiesbaden, S. 239-254.
  • Marotzki, Winfried/ Jörissen, Benjamin (2010): Dimensionen strukturaler Medienbildung. In: Herzig, Bardo/ Meister, Dorothee M./ Moser, Heinz/ Niesyto, Horst (Hg.): Jahrbuch Medienpädagogik 8. Medienkompetenz und Web 2.0. Wiesbaden, S. 19-39.
  • Medienpädagogisches Manifest: Keine Bildung ohne Medien! (2009). URL: http://www.keine-bildung-ohne-medien.de/
  • Niesyto, Horst (2009): Digitale Medien, soziale Benachteiligung und soziale Distinktion. In: MedienPädagogik, Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Themenheft 17: Medien und soziokulturelle Unterschiede. URL: www.medienpaed.com/17/niesyto0906.pdf
  • Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/Main.
  • Schirrmacher, Frank (2009): Payback. München.
  • Sterling, Bruce: Unser quälendes Unbehagen. FAZ vom 13.03.2010, S. 31 und 33.
  • Sünker, Heinz (2001): Bildung. In: Otto, Hans-Uwe/ Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. 2. Aufl. Neuwied, S. 162-168.
  • Wulf, Christoph (2001): Einführung in die Anthropologie der Erziehung. Weinheim und Basel.

Zum Autor

Dr. Horst Niesyto, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Institut für Erziehungswissenschaft. Leiter der Abteilung Medienpädagogik. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen. Vorsitzender der Sektion Medienpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) und Sprecher der Initiative "Keine Bildung ohne Medien!"
Homepage: www.ph-ludwigsburg.de/medien1
E-Mail: niesyto -at- ph-ludwigsburg.de