Ernst Fischer Von Gutenberg bis Cyberspace - Anforderungen an eine moderne Medienkompetenz - zehn Thesen

These eins:

Der Begriff Medienkompetenz läuft Gefahr, zur Leerformel zu verkommen. Dem Terminus wird inzwischen eine "diffuse Semantik" bescheinigt, eine Unverbindlichkeit, die Voraussetzung sei für die Popularität dieses Begriffs: "So lassen sich immer wieder neue definitorische Kreationen darüber zaubern, was Medienkompetenz ist oder sein soll, und sie finden allein schon wegen der Prominenz des Begriffs Gehör, werden aber auch von vielen immer wieder dahingehend geprüft, ob nun endlich der semantische Kern an Klarheit und Eindeutigkeit gefunden ist." (Hans-Dieter Kübler, auf der Expertentagung "Medienkompetenz", Bonn 1998). Immer öfter wird dabei ein Zusammenhang mit der medientechnologischen Entwicklung hergestellt: Der Begriff Medienkompetenz habe seine zunehmende Diffusität, ja Inhaltsleere erst mit der digitalen Revolution erreicht. Das trifft zu, doch sollte andererseits auch klar sein, daß gerade in dieser Situation einer fortschreitenden Mediatisierung unserer Lebenswelt eine Verständigung über den "semantischen Kern" des Begriffs Medienkompetenz notwendiger ist denn je.

These zwei:

Die (derzeit) eingeschränkte Brauchbarkeit des Begriffs Medienkompetenz ist nicht zuletzt die Folge seiner Überfrachtung. Zwar hat sich ein Grundkonsens herausgebildet, demzufolge Medienkompetenz in erster Linie auf die Fähigkeit zum kritisch-reflektierten Umgang mit Medien abzielt. Dahinter steht das Leitbild des selbstbestimmten Individuums, das zur Partizipation am politisch-gesellschaftlichen Leben bzw. den Diskursen befähigt werden solle. Einigkeit besteht auch darüber, daß medienpädagogische Arbeit sich von den alten Mustern der Bewahrpädagogik fernhalten müsse. Um diese Basisvorstellung rankt sich aber eine Vielzahl weiterer Forderungen, mit denen Medienkompetenz zu einer derart komplexen Fähigkeit stilisiert wird, daß man sich wünschen möchte, es würden wenigstens alle Medienwissenschaftler diese Kompetenz aufbringen. So wurden in den pädagogischen Konzepten von Medienkompetenz unter anderem folgende Forderungen nachgewiesen (Bonner Tagung von 1998; Kübler, S.27):

  • Kenntnisse zu haben über die Strukturen, Organisationsformen und Funktionsweisen sowie über Programme, Dramaturgien und Inhalte der Medien,
  • analytische und evaluative Fähigkeiten zu entwickeln, um Medien bzw. ihre Inhalte auf vielfältige Kriterien hin einzuschätzen und zu beurteilen (z.B. nach Gesichtspunkten ihres Ideologiegehalts oder ihrer Objektivität, nach Angemessenheit und Vollständigkeit, Professionalität, Qualität etc.),
  • sozial reflexive Fähigkeiten, die jeder möglichst in Gruppenarbeit ausbilden sollte und in deren Rahmen die individuellen Nutzungsweisen von Medien beobachtet und bewußt gemacht, eventuell auch korrigiert werden (unter Einbeziehung moralischer Orientierungen und der sogen. "emotionalen Intelligenz"),
  • handlungsorientierte Fähigkeiten, von der technischen Handhabung von Geräten bzw. individuell verfügbaren Medien bis zu politischen Intentionen kommunikativen Handels, wobei immer im Auge behalten werden soll, daß Kommunikationsmittel des Menschen humanen Zielen dienen sollen.

Es gibt wohl nur wenige, die all diese Fähigkeiten aufbringen. Mit unrealistischen Vorstellungen ist aber dem berechtigten Anliegen der Medienpädagogik nicht gedient.

These drei:

In den hochgeschraubten Erwartungen und ausgefeilten Definitionen von Medienkompetenz liegt immer auch ein Moment medienpädagogischer Selbstüberschätzung. Tatsächlich fehlt es vielfach an gesichertem Wissen über Medien, auch bei den "Experten". Seit Anbruch der elektronischen Informationsrevolution gilt mehr denn je: Die Mediengesellschaft zerfällt nicht in Wissende und Unwissende, sondern sie ist eine Gesellschaft der gemeinsam Lernenden. Die Diskussion über Medienkompetenz ernährt sich in vielerlei Hinsicht aus prätendierter Gewißheit. Um nur einen wichtigen Beispielbereich zu nennen: Wo von Medienkompetenz gesprochen wird, ist meistens auch von den Gefahren und Chancen von Medien die Rede. Allerdings: Die Wirkung von Medien ist ein Forschungsfeld, das wenig klare Erkenntnisse, dafür umso mehr Mutmaßungen oder als wissenschaftliche Erkenntnis vorgeführte Glaubenswahrheiten bereithält. Näheres dazu in

These vier:

Im November 1998 hat in Leipzig ein buchwissenschaftliches Symposium stattgefunden, auf dem u.a. eine Bestandsaufnahme zur Medienwirkungsforschung der vergangenen Jahrzehnte vorgenommen und diskutiert wurde (Matthias Rath). Das Ergebnis dieser Bestandsaufnahme kann nur als ernüchternd bezeichnet werden. Denn es wurde aufgewiesen, daß die Medienwirkungsforschung zuletzt von drei "Metatheorien" beherrscht gewesen ist, die teils zu völlig widersprüchlichen, teils zu gar keinen konkreten Befunden geführt haben. Eine dieser Theorien geht davon aus, daß Medien eine extrem starke Wirkung haben, daß es also einen direkten Zusammenhang zwischen Medienangebot und Medienwirkung gibt. Eine zweite Theorieschiene beruht im Gegenteil auf der Einsicht, daß Medien eine extrem schwache Wirkung haben; allenfalls können Medien vorhandene Einstellungen verstärken, aber keine neuen erzeugen. Die dritte und derzeit aktuellste oder am breitesten rezipierte bzw. akzeptierte Metatheorie ist eine Theorie der selektiven Medienwirkung. Diese letztere wirkt nun aber doch einigermaßen halbherzig, denn sie leugnet einerseits nicht, daß es eine Wirkung der Medienangebote gibt, verneint aber anderereits eine klare Ursache-Wirkung-Beziehung; jedenfalls hänge die konkrete Wirkung von Medien von einer Vielzahl von Randbedingungen ab. Mit der Auffassung, daß die entscheidenden Determinanten der Wirkung von Medien in den individuellen Voraussetzungen beschlossen liegen, die der einzelne Mediennutzer mit bringt: Alter, Bildung, sozialer Status, Lebensumfeld. Lebenserfahrung, Medienerfahrung etc., wird aber nur etwas Selbstverständliches ausgesprochen. Die Frage nach der Medienwirkung löst sich in eine solche nach den Rahmenbedingungen auf, die Medien selbst bleiben eine Leerstelle in dieser Theorie, und im Rahmen der Medienwirkungsforschung bleibt damit vieles offen. Zudem werden die Wirkungsaspekte nach wie vor in erster Linie inhaltsbezogen behandelt, wodurch das Spezifische der Medienwirkung übersehen wird.

These fünf:

Die wesentliche Wirkung von Medien beruht nicht auf ihren Inhalten, sondern auf ihrer Form (Form in einem sehr grundsätzlichen Sinne). Dieser Gedanke wurde im Rahmen der Medientheorie, vor allem der Toronto School of Communication und deren Umkreis, seit Jahrzehnten auf nachdrückliche Weise dargelegt und vertreten, im deutschsprachigen Raum aber meist auf eine eher oberflächliche Weise rezipiert. Harold A. Innis, nach ihm Eric A. Havelock, Walter J.Ong, McLuhan und heute Derrick de Kerckhove, der McLuhans geistiges Erbe in Toronto verwaltet, haben in ihren teilweise recht unterschiedlichen Forschungsansätzen einen gemeinsamen Fluchtpunkt: in der Frage nach den Auswirkungen von Medien und medialen Umbrüchen auf die Wahrnehmungswelt der Menschen. Zu ihren Grundannahmen gehört, daß sich aus dem Gebrauch bestimmter Medien spezifische Denkformen herausbilden, eine spezifische Sicht auf die Realität, - spezifische Kulturen, die sich durch einen Wechsel in den Kommunikationsverhältnissen wieder entscheidend verändern. Daß von diesen Medientheoretikern zuweilen weit zurückgegriffen wird, in das Griechenland des ersten Jahrtausends vor Christus etwa, hat einen guten Grund: Erst historisch weitgespannte Beobachtungsräume schaffen jene Distanz, die es braucht, um Medienwirkungen retrospektiv beurteilen zu können. Ein kurzer Exkurs soll deutlich machen, welche Einsichten sich aus solchen historischen Analysen ergeben.

Exkurs

In der Geschichte der Medien (diesen Begriff wieder im weitesten Sinne genommen, beginnend bei den Medien Sprache und Schrift) zeichnen sich einige »Urszenen« ab, Szenen der Entstehung neuer medialer Paradigmen, Szenen des Medienwechsels, die es erlauben, aus einer Differenzanalyse heraus spezifische Wirkungen dieser medialen Paradigmen zu ermitteln: es sind dies die Übergänge von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von der Handschrift zum Druck, von den Druckmedien zu den im engeren Sinn technischen Medien und schließlich der Übergang zu den elektronisch-digitalen Medien. Das Medium Sprache war für die Herausbildung der menschlichen Art von ganz zentraler Bedeutung, und es hat seine Rolle als Fundament aller Kulturentwicklung bis heute gewahrt - eine Feststellung von großer Selbstverständlichkeit, ja tautologischem Charakter, handelt es sich doch bei Sprache um ein integrales Moment des Menschseins selbst. Wie wenig allerdings in der Mediengeschichte sich von selbst versteht, wird offenbar, wenn man die differierenden Ansätze und Lösungsmöglichkeiten betrachtet, Sprache in Schriftzeichen umzusetzen. Der vergleichende Blick auf China, Indien, Ägypten und Griechenland läßt erkennen, daß im Jahrtausend vor Christus Hochkulturen auf Grundlage höchst unterschiedlicher Schriftsysteme möglich waren: Ideographische Schrift (Bilderschrift) findet sich hier ebenso wie Silbenschrift und alphabetische Schrift, oder auch Mischformen davon.

Der Siegeszug des Alphabets, mit dem jeder Laut der Sprache exakt (und mehr oder minder abstrakt) wiedergegeben werden kann, legt allerdings die Annahme nahe, daß es diese Schriftkonzeption war, welche die entscheidende Voraussetzung für die Dynamik der abendländische Kulturentwicklung geschaffen hat. So betrachtet Eric A. Havelock die sich um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends im griechischen Kulturkreis ausbreitende Schriftlichkeit als Ausgangspunkt einer kulturellen Revolution, deren Wirkung um einiges höher zu veranschlagen sei als die spätere Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Havelocks Bestreben nach einer entwicklungsgeschichtlichen Herleitung des abendländischen Rationalismus war geleitet von der fundamentalen Frage: »Ist die westliche Kultur in all ihren Erscheinungsformen wie wissenschaftliches Denken, Logik und theoretische Neugierde, Geschichtsbewußtsein, monotheistische Religion, Seelenglaube und Individualismus, Trennung von Staat und Kirche, Technologie, Demokratie und Marktwirtschaft letztlich aus dem Geist der Schrift - und zwar der griechischen Alphabetschrift - geboren?"

Im Grunde handelte es sich damals bereits um eine erste »Technologisierung des Wortes«, wie Walter J. Ong in seinem grundlegenden Werk "Oralität und Literalität" aufzeigt.

Die Folgen des Übergangs von mündlich bestimmten Kommunikationsformen zu handschriftlichen beschreibt er in einem Merkmalskomplex: Oral geprägtes Denken neige zu additiven Strukturen, zu Formelhaftigkeit und Wiederholung, zu kulturellem Konservativismus, zu Lebensnähe, von daher auch zum Kämpferischen, zur Einfühlung und zur Subjektivität. Es befördere Gemeinschaft sowie die Stabilität der Gesellschaft, nicht zuletzt durch einen strukturellen Gedächtnisschwund, durch das fortlaufende Verschwinden veralteten Wissens im Prozeß eines »natürlichen« Vergessens. Schriftlichkeit dagegen führe zu komplexerem und analytischem Denken; zu Linearität anstelle kreisförmiger Wiederholung; zu einer Form der Bewahrung, die von Gedächtnisarbeit befreit und spekulativen Gedanken Raum gibt; zu Distanz gegenüber der eigenen Erfahrung, damit zur Objektivierung; zur Wissensanhäufung, zu Individualismus und schließlich zu verstärkter gesellschaftlicher Dynamik. Sie fördert formale Logik bzw. logisch folgernde Vernunft. Auch Derrick de Kerckhove hält dafür, daß Schrift das Verhalten formalisiert, den Menschen gleichsam programmiert: Das Alphabet nennt er die »Software des Abendlandes«.

Einer vergleichbaren Interpretation unterliegt dann auch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg, eine zweite Urszene der Mediengeschichte. Der Druck objektivierte das Wort in wesentlich prägnanterer Weise als dies beim viel stärker mündlich geprägten Schreiben mit der Hand der Fall war. Die Dominanz des Sehens verstärkte sich gegenüber dem Hören, wobei die volle Wirkung erst im Laufe von Jahrhunderten eintrat. So erwies sich das 18. Jahrhundert als eine entscheidend wichtige Etappe im Prozeß der Dynamisierung der Kommunikationsverhältnisse: Im Zeichen der Aufklärung entstanden mit neuen Publikumsschichten und markant gewandelten Lesegewohnheiten ein expansiver Buchmarkt und eine bürgerliche Öffentlichkeit, insgesamt eine Kommunikationssituation, die sich durch die Tendenz zur fortschreitenden Verdichtung auszeichnete und damit den Auftakt für die moderne Medienentwicklung setzte.

Parallel zur Expansion der Printmedien entstanden dann jene Medien, die Sinnesebenen des Menschen ansprachen, die in der Kultur des gedruckten Wortes in den Hintergrund gedrängt worden waren: Bildmedien wie Photographie und Film, Hörmedien wie Schallplatte und Rundfunk, später dann Tonfilm und Fernsehen - im Grunde eine dritte Urszene der Mediengeschichte. Die Wiedergewinnung alter, verschütteter sinnlicher Bereiche durch die neuen, elektrischen und elektronischen Medien wurde zu einem wichtigen Aspekt medientheorischer Reflexion, vor allem bei Marshall McLuhan. Nach McLuhans Vorstellungen hat die Gutenberg-Galaxis das Kommunikationsvermögen des »typographic man« eingeengt und in einseitiger Weise das linearkausale, analytische und logische Denken gefördert. Die neu entstehende Mediengalaxis dagegen beanspruche den Menschen nun wieder in allen seinen sinnlichen Kapazitäten, - darunter ganz ausdrücklich auch jene der mündlichen Kultur. Spezialisierungen, wie sie im Zeichen der Druckkultur aufgetreten waren wie etwa die Trennung von Sehen und Hören (z.B. Dichtung und Gesang) könnten jetzt rückgängig gemacht, die Dominanz des Visuellen revidiert, das Ohr gegenüber dem Auge rehabilitiert werden.

Inzwischen ist mit der computergestützten Kommunikations- und Informationstechnologie eine vierte Urszene entstanden. Ihre entscheidende Voraussetzung stellt die Digitalisierung von Information dar, durch die Text, Bild und Ton aus der Welt der Atome in die Welt der Bits und Bytes transferiert und so in faktisch unbegrenztem Umfang gespeichert und in effizienter Weise weltweit und jederzeit verbreitet werden können. Insbesondere das Internet repräsentiert eine neue Dimension in der Technisierung der Kommunikation, es führt aber in mancherlei Hinsicht zurück zu den Ursprüngen, wobei die Tendenz zu einer Re-Oralisierung der westlichen Kultur zu den auffälligsten Phänomen gehört. Walter J. Ong etwa spricht von einer »zweiten Oralität« des elektronischen Zeitalters, und tatsächlich scheinen sich die Kommunikationsformen im Internet wie Chatten, Newsgroup-Diskussionen oder E-Mail ganz eindeutig an mündlichen Kommunikationssituationen zu orientieren; sie repräsentieren Formen »oraler Schriftlichkeit«. Sprechsprachliche Elemente, Signale gesprächsmäßiger Unmittelbarkeit, gezielte Verstöße gegen die schriftlichen Konventionen belegen diese These. Zwar verweist Ong nicht nur auf Gemeinsamkeiten mit der primären Oralität schriftloser Gesellschaften, auf eine Mystik der Partizipation, strikten Gegenwartsbezug, auf Formelhaftigkeit; er hebt auch die Unterschiede hervor wie etwa den höheren Grad an Bewußtsein, die Reflexivität, mit der diese Gemeinschaftsbildung im globalen Dorf erfolgt.

Was läßt sich als Ergebnis dieses Exkurses festhalten? Die wichtigste Einsicht ist wohl die, daß jedes neue Medium auf alten aufsetzt. Das Medium Schrift setzt auf das Medium Sprache auf, denn Schrift, alphabetische Schrift, kann nicht außerhalb der gesprochenen Sprache existieren. Ähnliches gilt für den Buchdruck und später dann für die im engeren Sinne technischen Medien; auch sie aktualisieren auf neue Weise ältere Medien- und Kommunikationsformen (ein Beispiel wäre, wie die Fernseh-Talkshow Muster der oralen (Dorfplatz-/Stammtisch- etc.)Kultur adaptiert). Im "Medienwechsel" werden alte Medien keineswegs für immer verdrängt oder gar eliminiert. Wir beobachten vielmehr, daß sich alle wesentlichen medialen Paradigmen erhalten haben, wenn auch meist unter Übernahme anderer Aufgaben. Es gibt also keinen Anlaß, heute einem Medium - ob dies das Buch, das Fernsehen oder der Rundfunk ist - das Totenglöcklein läuten zu wollen; alle werden mit ihren spezifischen Funktionsmerkmalen weiterhin gebraucht.

Was dieser Exkurs aber außerdem beleuchtet, ist die Schwierigkeit, selbst im Rückblick auf vergangene Zeiten eindeutige Wirkungen bestimmter medialer Praktiken festzumachen. Unter diesen Umständen scheint es illusorisch, die komplexe Wirkung von Medien in der eigenen Gegenwart, gleichsam in Echtzeit, beurteilen zu wollen. Weitergehende Aussagen über den Einfluß der neuen Medien auf unsere Denkstrukturen, über ihre Rolle als "Weltbildgeneratoren" erscheinen in hohem Grade spekulativ. Was bedeutet all das nun für die aktuelle Situation?

These sechs:

Im Zeichen der vor unseren Augen ablaufenden Kommunikationsrevolution ist Medienkompetenz dringlicher erforderlich denn je, kann allerdings auch einfacher erworben werden als früher. Diese Behauptung muß argumentativ begründet werden. Die Medienlandschaft ist gekennzeichnet vom Prozeß einer fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung des Medienangebots, und eben darin liegt für sich genommen ein hoher Wert; denn Medien kontrollieren einander gegenseitig in ihren Wirkungen, relativieren, ja neutralisieren einander gelegentlich. Vor allem aber erzeugt diese Differenziertheit aus sich heraus einen höheren Grad an Problembewußtsein. Sie nimmt uns damit einen Teil der Aufgabe ab, den kritischen Umgang mit Medien zu fördern. Die potentiell weltverändernde Kraft der Netzwerktechnologie hat das Nachdenken über Medien generell entschieden gefördert (noch nie hat man sich z.B. auf so breiter Basis für das Schicksal und die spezifischen Funktionen des Buches interessiert). In dieser Hinsicht hat vor allem die elektronische Netzwerktechnologie noch einmal neue Voraussetzungen für gesellschaftliche Kommunikation geschaffen: Praktiken des Informationsaustausches können von Grund auf neu organisiert und modelliert, gleichsam ein weiteres Mal erfunden werden. Diese Situation bietet dem Beobachter eine singuläre Gelegenheit, Einsichten in die Kommunikationsbedürfnisse des Menschen zu gewinnen, Einsichten auch in seine Kommunikationsfähigkeit und deren Grenzen. Im Mittelpunkt solcher Beobachtungen steht die Frage nach den Folgen des Technisierungsschubs, den "Computer Mediated Communication" mit sich bringt: Ist der Mensch von seiner kognitiven und mentalen Grundausstattung her in der Lage, sich diese (eben noch als utopisch betrachteten) Werkzeuge anzueignen und sie zu integralen Elementen seiner sozialen Welt zu machen? Im Rahmen der kontrovers geführten Debatte begegnen Stimmen von Skeptikern, die vor den depravierenden Wirkungen technisierter Kommunikation warnen und Verluste an Authentizität, Intimität und Differenziertheit einklagen, wobei als Vergleichsmaßstab meist die "natürliche" Face-to-face-Begegnung dient. Andere sehen im Internet das "connective medium" par excellence und feiern die Entstehung einer neuen Kommunikationskultur.

Was nun den Begriff Medienkompetenz betrifft, so schwingt hier vielfach eine gewisse Abwehrhaltung mit, ein technologieskeptischer Akzent. Medienkompetenz wird dann als ein Remedium verstanden, als ein Vermögen, das die Schäden abwehrt, die moderne Medien qua Technik auf uns haben können. Eine solche Auffassung greift deutlich zu kurz, weil sie auf einer defizienten Technikauffassung beruht: Technik ist zwar eine Emanzipation von der Natur, von organischen Schranken, aber aus eben diesem Grund ist Technik immer auch ein Medium der Selbsterkenntnis des Menschen. Diese Erkenntnis stammt übrigens von Ernst Cassirer (aus seinem Traktat "Form und Technik 1930), Cassirer bezieht sich seinerseits auf Ernst Kapp ("Grundlinien einer Philosophie der Technik", 1877), und dessen These von der "Organprojektion": Mittels technischen Apparaten macht der Mensch sich seinen Körper und den organischen Zusammenhang der Welt verständlich. Diese Sichtweise von Technik bestätigt sich auch und allererst an den Medien: Medien sind Instrumente menschlicher Selbsterfahrung, derzeit wohl die wichtigsten. Und deswegen ist es von so großer Bedeutung, daß wir ein positives Verhältnis zu den Medien gewinnen.

Wenn es denn ein Faktum zu sein scheint, daß Hardware und Software die Kommunikationspraxis in verschiedenartigster Weise beeinflussen und determinieren, so ist es auch ein Faktum, daß den Geräten und Programmen unsere kommunikativen Bedürfnisse nach und nach eingeschrieben werden: "Technische Apparaturen sind stets anthropologisch korreliert, augmentieren, komplementieren oder substituieren menschliche Tätigkeiten. [...] Technik entsteht nur dort, wo spezifische menschliche Vermögen oder Unvermögen apparativ reflektiert werden können." (Gerhard Bachleitner: Die mediale Revolution. Anthropologische Überlegungen zu einer Ethik der Kommunikationstechnik. (Forum Interdisziplinäre Ethik, 15). Frankfurt a. M. u.a.: P. Lang 1997, S.16). Medien, auch hochtechnisierte, müssen sich den über lange Zeiträume evolutionär entwickelten Wahrnehmungsgewohnheiten des Menschen akkomodieren, wenn sie ihn erreichen wollen (so der Psychologe Ernst Pöppel, auf dem Kongreß "Envisioning Knowledge" im Februar 1999). Entwicklungsgeschichtliche Anpassungsprozesse haben dazu geführt, daß der Umgang mit technischen Medien zur "zweiten Natur" des Menschen wird. Hier wäre einmal mehr auf Marshall McLuhan zu verweisen, der Medien als "Extensions of Man" interpretiert hat, als Verlängerungen der Sinnesorgane bzw. des Zentralnervensystems.

These sieben:

Um die obige These noch zu vertiefen: Das Internet ist ein Glücksfall für die Vermittlung von Medienkompetenz. Für diese Annahme können mehrere Gründe geltend gemacht werden:

Das Internet ist ein aktives Medium; es ist auch ein vergleichsweise demokratisches. Aktive Medien können überhaupt nur bedient werden, wenn man sich bis zu einem gewissen Grad mit ihrer Funktionsweise auseinandersetzt; allein hierin liegt schon ein Unterschied zu einem passiven Medium wie Fernsehen. Die Auseinandersetzung mit Funktionsweisen ist aber die Basis für den kritisch-selbstbestimmten Umgang mit Medien.

Mit dem Internet werden in unserer Medienpraxis die Karten neu gemischt, durch Konkurrenzverhältnisse ebenso wie durch Konvergenzprozesse, das Verschmelzen mit anderen Medien wie Fernsehen oder Hörfunk. Internet-Radio z.B. stellt eine neue Chance dar, um Inseln einer demokratischen Öffentlichkeit zu errichten. Mit dem Ausbau der Datenübertragungsraten werden in den kommenden Jahren die multimedialen Potentiale des Internet sprunghaft vergrößert. Darüberhinaus schafft das Internet jetzt schon Verbindungen zu und zwischen den Medienbereichen, man denke an die gut frequentierten Seiten von Radio- und TV-Sendern, ein nicht zu unterschätzender Aspekt, denn hierdurch sind neue Formen der aktiven Beteiligung an der Programmgestaltung möglich geworden.

Das Internet ist ein Multimedium, das auch bidirektionale und multidirektionale Kommunikation ermöglicht; das Chatten und E-Mailen ist gerade unter den Jugendlichen eine wichtige Form der Medienpraxis geworden. Damit ist es ein Medium, das aus sich heraus die kommunikative Kompetenz seiner User in ganz besonderem Maße fordert und fördert. Es ist ein Medium, das zu bedienen Spaß macht, Funktionslust weckt, zumal es nicht schwierig in der Handhabung ist. Es braucht nicht viel spezielles Wissen, um sich eine eigene Homepage zu basteln, es fehlt auch nicht an Gelegenheit, diese ins Netz zu stellen, und hierdurch wird ein bedeutsamer persönlicher Schritt in eine Medienöffentlichkeit getan. Daß diese sogar eine virtuell weltumspannende ist, mag die Motivation zusätzlich fördern. Auch wenn diese Ansicht sicherlich nicht von allen geteilt wird: Es gibt Anzeichen dafür, daß das Internet die soziale Kompetenz seiner Nutzer in einem hohen Maße fördert. Das Bild des einsamen, fast autistisch vor dem Bildschirm sitzenden Internet-Freaks ist ein Zerrbild der Wirklichkeit. Diese Freaks sind fast immer in soziale Netze eingebettet, denn die neuen Technologien und Programme erfordern zu ihrer Aneignung den intensiven Informationsaustausch.

Noch ein anderer Punkt: Im Erwerb von Medienkompetenz könnte das Internet auch deshalb eine herausragende Rolle spielen, weil es gleichsam mit einem eigenständigen Ethos angetreten ist. Das Internet gewinnt ja seine Besonderheit aus seiner absoluten Dezentralität; viele Nutzer betrachten es bis heute als einen rechtsfreien Raum oder jedenfalls als einen Raum, der im Vergleich zum "real life" von höheren Freiheitsgraden gekennzeichnet ist. Als damit begonnen wurde, nationale Rechtsnormen zu schaffen, wie das in den USA mit dem "Telecommunication Reform Act" Anfang 1996 der Fall war, regte sich sofort Widerstand. Eine weltweit beachtete Reaktion war die von John Perry Barlow verfaßte "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace", welche der von der ersten Generation der "Netizens" weithin geteilten Überzeugung Ausdruck gab, daß es sich beim Internet um einen jenseits aller nationalen Hoheitsgebiete gelegenen, herrschaftsfreien sozialen Raum handle, der sich jedem Zugriff von außerhalb entziehe und entziehen dürfe. Barlow bestritt den Regierungen jedes Recht auf Intervention: "Wir schreiben unseren eigenen Gesellschaftsvertrag. [...] Wir glauben daran, daß unsere Regierungsweise sich aus der Ethik, dem aufgeklärten Selbstinteresse und dem Gemeinschaftswohl eigenständig entwickeln wird." In der Tat hat die Überzeugung, eine eigenständige, neue Ethik begründen zu können, noch um die Mitte der neunziger Jahre unter den Netzusern als gemeinsames identitätsstiftendes Moment gewirkt und das Internet in seiner ersten großen - aus heutiger Sicht ließe sich sagen: vorkommerziellen - Phase als Vorschein einer friedlichen Weltgesellschaft erscheinen lassen. Kodifizierungen von Verhaltensmaßregeln, die als "Netiquette" bekannt und allgemein akzeptiert wurden, gaben diesem Anspruch auf moralische Selbstbestimmung der Netzbürger und dem Vertrauen in die Selbstregulierungskraft des Cyberspace eine konkrete Grundlage. Zwar wurde diese Hoffnung bald als Utopie erkannt und als Teil des "Mythos Internet" betrachtet, doch werden die Netzuser auch heute noch informell auf einen Verhaltenskodex verpflichtet.

Das Netz-Ethos ist von einem Kommentator in einem Satz so gefaßt worden: "Zur Philosophie des Internet gehören Kommunikationsfreudigkeit, bewußter Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und insbesondere, der Gemeinschaft mehr oder zumindest genausoviel zu geben, wie man von ihr bekommt, wozu auch gehört, sich sehr oft bewußt zurückzuhalten." Es gibt sicherlich Möglichkeiten des Transfers dieser netz-ethischen Impulse in andere Medienbereiche hinein. Mindestens bietet der Zugriff großer wirtschaftlicher Mächte auf das Internet Anschauungsmaterial für die Entstehung und Wirkungsweise machtstrukturierter, kulturindustriell bestimmter Kommunikationsbereiche, Anschauungsmaterial, das zu denken geben könnte, das man diskutieren könnte und dem man auch etwas entgegensetzen könnte.

These acht:

Wir sollten uns eingestehen: Die (jungen) Menschen des Internetzeitalters, denen wir Medienkompetenz vermitteln wollen, stehen nicht dort, wo wir sie abholen wollen. Sie sind schon ein Stück weiter. Der Grund dafür ist: Das Internet ist Schauplatz einer sehr effizienten Selbstsozialisation unter Jugendlichen, wie ja Medienkompetenz heute vornehmlich im Rahmen jugendlicher Selbstsozialisation entsteht. Wie die Musikkultur, so sind auch Medien Orte, an denen sich Gruppenkulturen mit eigenen Codes herausbilden. Diese Art der Selbstverständigung und Selbstprofessionalisierung in Peer groups hat keineswegs nur einen technischen Aspekt, sie hat vor allem einen sozialen und wohl auch einen politischen (man denke an das Phänomen der Hacker, die eine eigene und bisweilen problematische Form von Medienkompetenz verkörpern). Im Prinzip liegt in dieser Selbstsozialisation qua Medien eine Chance, die es nützen gilt, indem man solchen Gruppen Betätigungsfelder und Anschlußmöglichkeiten an die vorhandenen Medienstrukturen bietet.

These neun:

Die Aufgabe von Einrichtungen zur Vermittlung von Medienkompetenz liegen derzeit und in Zukunft verstärkt in der Verhinderung von sozialer Ungleichheit, die durch unterschiedliche Voraussetzungen beim Zugang und Gebrauch von Medien entstehen könnte. Hier wäre auch auf eine gewisse Breite der Mediennutzung zu achten: Zum einen macht es die Differenziertheit des aktuellen medialen Angebots erforderlich, die Fähigkeit zur selektiven Nutzung von Medien zu fördern. Die Zukunft wird bestimmt sein von einem persönlichen Medien-Mix der Nutzer, Medienkompetenz muß sich daher als etwas Ganzheitliches bewähren. Zum anderen aber gilt es, sich die in These 8 angesprochenen positiven Wirkungen der Medienvielfalt zunutze zu machen, ihr Reflexivwerden vor allem. Dabei bleibt das Postulat: "Medienkompetenz heißt: Medien beherrschen und nicht von ihnen beherrscht zu werden" sicherlich weiterhin richtig. Ebenso ist es weiterhin richtig, den Akzent auf die praktische Arbeit mit Medien zu legen. Nur so kann man sich in ein Verhältnis zu Medien setzen. Information über Medien ist wichtig, die entscheidenden über Projektarbeit - ob in "offenen Kanälen" oder in informellen Internet-Gruppierungen umgesetzt werden. Die elektronische Netzwerktechnologie bietet sich für solche Initiativen an!

These zehn:

In den öffentlichen Debatten der vergangenen Monate hat sich ein Thema in den Vordergrund geschoben, das Fehlen von IT-Fachkräften in Deutschland. Diese Debatte tangiert durchaus auch den Medienbereich, besonders die sogenannten Neuen Medien. Unter den gegebenen Umständen ist zu erwarten, daß sich auch im Diskussionsfeld "Medienkompetenz" der Akzent von den kritisch-pädagogischen Aspekten hin zu berufsqualifikatorischen verschiebt. Die Frage, ob sich jemand in der Medienwelt zurechtfindet, wird stärker als bisher so verstanden werden, ob er seine Kompetenz auch in den Arbeitsprozeß einbringen kann. Dies mag man als Verflachung, vielleicht sogar Pervertierung der ursprünglichen Intentionen bedauern. In einer Gesellschaft, in der das Ökonomische absoluten Vorrang hat, mußte und muß eine kritische Medienpädagogik als Sand im Getriebe der Medienindustrie wirken, und das ist auch gut und richtig so. Es bietet diese Konstellation aber auch Chancen, die es zu nützen gilt. Initiativen, die geeignet sind, eine junge Generation noch stärker für die Herausforderung zu interessieren, die computergestützte Medien für unsere Gesellschaft bedeuten, müßten mehr denn je förderungswürdig erscheinen. In einem weiteren Schritt müßte darauf gedrungen werden, daß überall dort, wo Ausbildungsformen der Vermittlung von technischen und handwerklichen Fähigkeiten im Umgang mit Medien dienen, immer stärker auch die politischen, sozialen und kommunikativen Aspekte der Mediennutzung berücksichtigt werden. Die Frage der "Medienkompetenz" würde sich dann zu einer Frage nach einer umfassenden "Medienbildung" weiterentwickeln lassen, - ein für die Zukunft unserer Gesellschaft fundamental wichtiges Programm.

Abschließend noch eine Überlegung, aus Anlaß des Gutenberg-Jubiläumsjahrs 2000, in dem der 600.Geburtstag des "Man of the Millenium" gefeiert wird. Könnte Johannes Gutenberg einen Blick auf die Welt von heute werfen, würde ihn vielleicht ein Faktum ganz besonders überraschen, wohl auch faszinieren: Auf oder neben hunderten Millionen von Schreib- und Arbeitstischen weltweit steht jetzt ein Gerät, mit dem nicht nur seine epochale Erfindung übertroffen scheint, sondern auch die allerkühnste Phantasie, die er an diese Erfindung heften durfte: ein Computer-Drucker, der - angeschlossen an den PC - auf Knopfdruck Drucke von beliebiger Anzahl, Länge und Gestaltung, unter wechselnden Schriftarten und -größen, auch fett oder kursiv, mit beliebigen Zeilenlängen und -abständen, im Schwarzdruck oder auch in Farbe zu erzeugen imstande ist. Und so gut wie jeder scheint diese bloß schachtelgroße, aber perfekte Druckerwerkstatt bedienen zu können, und jeder tut es - so müßte es Gutenberg vorkommen und so IST es ja auch - jeder tut es mit größter Selbstverständlichkeit. Heute, 550 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, ist jeder sein eigener Drucker. Was für Gutenberg "Aventur und Kunst" war und damals ein "Geheimunternehmen", ist heute allgemein zugänglich. Warum sollte es mit anderen Medien nicht ähnlich laufen? Der Lebenszyklus von Medien, so lehrt es die Geschichte (die Geschichte der Photographie, des Tonbands, des Videofilmens etc.), führt regelmäßig aus der Exklusivität des Spezialistentums heraus und früher oder später in den ganz selbstverständlichen aktiven Gebrauch durch viele hinein. Auch unter dieser historischen Langzeitperspektive ist das Bildungszentrum BürgerMedien auf dem richtigen Weg.

Vortrag von Prof. Dr. Ernst Fischer (Institut für Buchwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz), gehalten am 19. Juni 2000 bei der Kuratoriumssitzung des Bildungszentrums BürgerMedien e.V. in Mainz

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers