Scripted Reality - die erfundene TV-Wirklichkeit

Die TV-Serien heißen "Berlin - Tag & Nacht", "Köln 50667", "X-Diaries", "Verdachtsfälle", "Die Schulermittler", "Familien im Brennpunkt" oder "Schicksale - plötzlich ist alles anders". Zu sehen sind Einblicke in den etwas anderen Alltag. Es geht um Liebe und Hass, Streit und Versöhnung. Und immer ist eine Kamera mit dabei, wenn Menschen sich in schwierigen Konfliktsituationen behaupten müssen. Mit dokumentarischem Eifer scheinen Filmteams alle Akteure zu begleiten, ohne etwas Wichtiges zu verpassen. Hinzu kommen immer wieder kurze Statements der Betroffenen (O-Töne). Dass die Kameraeinstellungen oft verwackelt wirken, lässt alles nur umso echter wirken.

Doch Vorsicht: Was wie Wirklichkeit aussehen soll, ist schlicht erfunden. Der englische Fachbegriff dafür ist Scripted Reality. Dabei handelt es sich um inszenierte Doku-Serien, die auf einem Drehbuch basieren. Das alles wirkt auf den ersten Blick wie klassische TV-Dokumentationen, weil Laien-Darsteller Dialoge entlang einer vorgegebenen Dramaturgie improvisieren. Die künstlich geschaffenen Geschichten garantieren, dass vor der Reporter-Kamera immer Entscheidendes passiert. Wirklichkeit wird künstlich nachempfunden, inhaltlich verdichtet und so in Szene gesetzt, dass es immer um die ganz großen Gefühle geht, also um Schicksalsschläge, Beziehungs- und Familienkonflikte.

Scripted-Reality-Dramaturgie folgt einem simplen Spannungsbogen: von einer schwierigen Situation über drohende Katastrophen bis zum Happy End. Für die Charaktere der Serien "Berlin - Tag & Nacht" und "Köln 50667" haben die Produzenten sogar Profile bei sozialen Online-Netzwerken erfunden. Vor allem junge Zuschauer sollen so noch intensiver am Leben der künstlichen TV-Wohngemeinschaften teilhaben.

Dank der Laien-Darsteller lässt sich viel Geld sparen. Gefragt sind vor allem Hobby-Schauspieler, die echt wirken, Gefühle zeigen können und ein Gespür für spannende Dialoge haben. Wer beim Drehen überzeugt, wird auch häufiger gebucht. Mehr als ein Einsatz pro Vierteljahr ist allerdings in der Regel nicht möglich. Andernfalls könnte das Publikum verwirrt reagieren, wenn Akteure unterschiedliche Rollen verkörpern.

Die Welt der Scripted Reality ist eine erfundene Wirklichkeit, die keine Zwischentöne kennt, sondern nur ein Leben im Ausnahmezustand der ganzen großen Gefühle. Auch die Art, in der Konflikte ausgetragen werden, ist alles andere als nachahmenswert. Doch das Kalkül der Sender und Produzenten geht auf: Sie erreichen mit Scripted Reality relativ hohe Marktanteile und benötigen dafür nur wenig Geld, weil Studio-Kosten und Schauspieler-Honorare kaum anfallen. Gedreht wird häufig in gemieteten Wohnungen. Die kommentierenden O-Töne der Darsteller werden nachträglich eingearbeitet.

Ob wirklich alle Zuschauer unterscheiden können, was im Fernsehen eine Reportage ist und was eine erfundene Story, ist umstritten. Unerfahrene TV-Zuschauer könnten die Inhalte der nachmittäglichen Doku-Serien für echt halten. Dass alles nur erfunden ist, wird meist nur ganz klein im Abspann verraten. Deshalb fordern Kritiker eine einheitliche und klare Kennzeichnung, die es vor allem Kindern und Jugendliche erleichtern soll, Sendungen angemessen zu bewerten und einzuordnen.

Mit freundlicher Erlaubnis der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen

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