Jan-Hinrik Schmidt, Zwischen Partizipationsversprechen und Algorithmenmacht: Wie soziale Medien Meinungsbildung und Orientierung in der Welt prägen. (2017)

Vortrag auf der 6. Netzwerktagung "Medienkompetenz stärkt Brandenburg" am 18.10.2017

Eine leicht modifizierte Version des Vortrags wurde in der vom Landesfachverband Medienbildung Brandenburg e.V. herausgegebenen Dokumentation der Tagung "Meinungsbildung vs Meinungsmache. Entwicklungsaufgaben einer kritischen Medienpädagogik“, Potsdam, 18. Oktober 2017, veröffentlicht:

Bei der 17-Jährigen Luisa ist YouTube an die Stelle des Fernsehens getreten, um sich über aktuelle Themen zu informieren, die sie interessieren. Auf Empfehlung ihrer Mutter sieht sie sich dort eine ARTE-Dokumentation zum Klimawandel an; im Anschluss schlägt ihr der YouTube-Algorithmus ein weiteres Video vor. Dieser professionell produzierte “Lehrfilm“ argumentiert, es gebe keinen menschengemachten Klimawandel. Die Schülerin, die sich in der Jugendgruppe einer Umwelt-NGO engagiert, gerät ins Schwanken: "Also man weiß dann nicht, was man so richtig glauben soll, weil manche Informationen sind dann auch irgendwie ganz gut oder glaubwürdig, obwohl ich auch nicht alles verstehe, aber es ist irgendwie schwierig das so auseinanderzuhalten"

Als Jasmin, eine 22-jährige Auszubildende, am frühen Abend des 22. Juli nach Hause kommt, erfährt sie über eine Eilmeldung auf ihrem Smartphone vom Amoklauf in München. Daheim schaltet sie den Fernseher an und verfolgt die Berichterstattung der ARD, informiert sich zugleich aber auch über Whatsapp und Facebook, ob es ihren Freunden und Bekannten vor Ort gut geht. Dabei wird sie auch mit einem Augenzeugen-Video konfrontiert, das Schüsse und Verletzte zeigt: "Das hat man halt auch vorher schon in den Nachrichten gesehen, aber es ging auch sofort bei Facebook los das Video und wurde ja auch gleich tausendfach irgendwie geteilt und geliked (...) Es war halt einfach da"

Der 54-Jährige Dieter, Mitglied einer verkehrspolitischen Initiative in Hamburg, betrachtet Google als wichtiges Werkzeug, um sich zu seinen Interessen zu informieren. Gleichzeitig missfällt ihm aber die Monopolstellung, die der Konzern mittlerweile hat. Auch andere Internetunternehmen sieht er kritisch, selbst wenn sie ihm helfen könnten, Unterstützung für seine politischen Anliegen zu mobilisieren: "Nein, ich will nichts über Facebook oder Twitter [weiterverbreiten], weil das sind undemokratische Unternehmen, die ganz, ganz eigene Interessen haben.“

Die Erfahrungen dieser drei Personen wurden im Rahmen eines Projekts zur Bedeutung des Internets für die Meinungsbildung aufgezeichnet. Sie veranschaulichen beispielhaft die zentrale Bedeutung, die Netzwerk-, Video- und Microbloggingplattformen, Suchmaschinen und Instant-Messaging-Dienste mittlerweile im Gefüge gesellschaftlicher Öffentlichkeit haben. Bei allen Unterschieden in ihrer technischen Funktionsweise und Verbreitung ist diesen Angeboten doch gemeinsam, dass sie als Informationsintermediäre fungieren, deren Kommunikationsarchitektur von drei Prinzipien geprägt ist.

Erstens betreiben Informationsintermediäre die Ent- und Neubündelung von Informationen zugleich: Sie erschließen Informationen aus unterschiedlichen Quellen, indem sie diese aus ihrem Ursprungskontext lösen und in eigene Datenbanken einbetten, oder gleich die Kanäle für das Veröffentlichen von Inhalten aller Art bereitstellen. Ihren Nutzern präsentieren sie Informationen nicht mehr in Form von etablierten publizistischen Ordnungen mit eigenen zeitlichen Rhythmen (wie der "Sendung“ oder der "Ausgabe“), sondern in Form von augenblicklich erstellten, oft auch ständig aktualisierten "Trefferlisten“ oder "Streams“. Ein- oder Ausschluss sowie Aggregation von Inhalten unterliegen nicht mehr redaktioneller Entscheidung, sondern sind im Wesentlichen Ergebnis einer algorithmischen Filterung, zum Beispiel durch Prüfung der Relevanz von Quellen für einen Suchbegriff oder durch das bevorzugte Anzeigen von Informationen, die aus dem eigenen Kontaktnetzwerk stammen.

Diese Form der "Algorithmic Media Production“ (Philip Napoli) trägt – zweitens – maßgeblich dazu bei, dass Informationsintermediäre die Personalisierung von Informationsangeboten fördern. Dies kann nutzerseitig gewollt und bewusst geschehen, etwa indem bestimmte Quellen dem eigenen Kontaktnetzwerk hinzugefügt, gleichsam abonniert werden. Personalisierung geschieht aber auch unbemerkt oder ungewollt, wenn Empfehlungs- und Filtermechanismen zum Einsatz kommen, die vergangenes Nutzerverhalten oder Metadaten über eine Person und ihre soziale Einbettung auswerten, um bestimmte Informationen ein- bzw. auszublenden.

Drittens schließlich unterstützen Informationsintermediäre – mit Ausnahme der Suchmaschinen – die Konvergenz unterschiedlicher Kommunikationsmodi, die bislang weitgehend getrennt voneinander waren. Augenfällig ist in dieser Hinsicht sicherlich das Zusammenwachsen von publizistischer und konversationaler Kommunikation: Intermediäre erschließen auch journalistisch-massenmediale Inhalte, betten sie aber in Anschlusskommunikation des Publikums ein. Kommentare, Empfehlungen oder explizite Bewertungen (etwa in Form von "Likes“ oder "Thumbs up“) der Nutzer werden sichtbar. Die erleichterten Bedingungen für das Weiterleiten und Empfehlen fördern zudem die u.U. rasante schneeballartige Verbreitung von Inhalten, insbesondere innerhalb von bereits existierenden Beziehungsgeflechten. Intermediäre sind aber auch Heimat für eine wachsende Zahl von Profilen, die nicht von Menschen, sondern von "social bots“ bestückt werden und den Modus der Mensch-Maschine-Kommunikation ins Spiel bringen.

Unbestritten: Informationsintermediäre erfüllen dank dieser Prinzipien wichtige Vermittlungs- und Orientierungsfunktionen. Sie stellen ihren Nutzern Mittel zur Verfügung, sich die Fülle und Vielfalt der online verfügbaren Informationen zu erschließen, gerade auch in Hinblick auf solche Themen, die journalistisch-publizistische Anbieter nicht abdecken, etwa gruppenbezogene Belange oder Informationen zu Nischeninteressen. Dazu kommt, dass das Internet seinen Nutzern seit jeher viele Möglichkeiten bietet, selbst aktiv zu werden und Erfahrungen, Erlebnisse und Meinungen mit anderen zu teilen. Neben Inhalten, die jenseits der persönlichen Öffentlichkeit des eigenen Freundes- und Bekanntenkreises auf kein Interesse stoßen, geht es dabei immer wieder auch um gesellschaftlich relevante Themen und Debatten, an denen Menschen niedrigschwellig partizipieren können.

Aber woher kommen dann das Unbehagen und die Kritik, die den aktuellen Diskurs um Intermediäre prägen und sich auch in den eingangs zitierten Vignetten finden? Offensichtlich verschieben Intermediäre das Gefüge von Öffentlichkeit so grundlegend, dass sich auch ungewollte, ja: demokratisch unerwünschte Folgen zeigen. Die derzeit größten Bedenken gelten in dieser Hinsicht wohl dem Szenario der "Filterblasen“, das der Publizist Eli Pariser bereits 2011 popularisiert hat. Er drückte die Sorge aus, dass die gegenwärtige Gestalt des Internet dazu führe, dass Menschen nur noch sehr eingeschränkte Vielfalt erleben und nicht mehr mit Informationen konfrontiert sind, nach denen sie nicht explizit gesucht haben oder die ihr etabliertes Weltbild in Frage stellen würden. Dafür seien drei miteinander verschränkte Ursachen verantwortlich: Um Informationsfülle zu verarbeiten und kognitive Dissonanz zu vermeiden, greifen viele Menschen auf Strategien der selektiven Auswahl zurück, anstatt sich beständig aus allen verfügbaren Quellen in alle denkbaren Richtungen zu informieren. Hinzu kommt die Tendenz von Menschen, sich mit anderen Personen zu umgeben, die ihnen – zum Beispiel in Hinblick auf Bildungsstand oder politische Einstellungen – ähnlich sind. Diese psychologischen und soziologischen Faktoren treffen bei den Intermediären auf algorithmische Systeme wie etwa den Newsfeed von Facebook oder die Videoempfehlungen auf YouTube. Sie filtern Informationen im Sinne der o.g. Personalisierung vorrangig danach, ob sie (a) vom Nutzer in der Vergangenheit bereits als relevant eingeschätzt wurden (gemessen etwa durch Klicks oder Verweildauer) sowie (b) ob sie von Mitgliedern seines erweiterten Netzwerks erstellt, kommentiert oder empfohlen wurden. Dies kann, so die These, zu verstärkenden Effekten und einer sukzessiven Verengung der Weltsicht kommen. Mittlerweile weiß man aber, dass es keinen eindeutigen und deterministischen Zusammenhang zwischen Intermediärsnutzung und Meinungsbildung gibt. Studien zeigen zwar, dass Filterblasen für manche Gruppen existieren, etwa die Anhänger von Verschwörungstheorien oder die (bislang sehr kleine) Gruppe derjenigen Personen, die sich vorrangig oder ausschließlich über soziale Medien informieren. Doch die Mehrheit der Internetnutzer hat ein breiteres Spektrum von Informationsquellen, die Themen von generellem Interesse oder auch unerwartete Informationen liefern.

Drängender scheint ein zweites Problem: Insbesondere die Netzwerk- und Videoplattformen schaffen Kommunikationsräume, in denen der verständigungsorientierte Austausch von Argumenten nicht im Vordergrund steht, sondern wo sich Menschen wechselseitig in ihrer vorgefassten Meinung bestätigen. Diese "Echokammern“, in denen nur noch zu Gehör kommt, was dem Gruppenkonsens entspricht, sind vor allem dann problematisch, wenn sie um extreme, intolerante und undemokratische Haltungen herum entstehen und die Meinungsäußerungen die Grenzen des Zulässigen streifen oder gar überschreiten.

Ohne solche "Hate Speech“ zu entschuldigen – zumindest in einigen dieser Fälle äußern sich Nutzer aus dem Moment heraus und schätzen die Reichweite und Persistenz ihrer Äußerungen nicht ab. Doch gerade bei Themen wie der Flüchtlingskrise geschehen Provokationen und Beleidigungen längst mit Kalkül, um die Grenzen des Sagbaren zu verschieben und Diskurse zu radikalisieren.

Die Betreiber von Intermediären ziehen sich angesichts dieser Problematik bislang meist auf die Haltung zurück, sie würden ja nur die Plattformen bereitstellen, auf denen sich andere Nutzer äußern können. Doch damit machen sie es sich zu einfach. Denn selbst wenn Intermediäre keine eigenen Inhalte erstellen, legen sie doch in Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Community Standards sowie insbesondere ihrer softwaretechnischen Gestalt sehr wirkmächtige Grenzen und Spielräume dessen fest, was Nutzer tun können und was nicht.

So entsteht ein fundamentaler Konflikt: Die immanenten Regeln eines weltweit operierenden Angebots wie Facebook oder Google treffen auf kulturelle Werte und Normen sowie nationale Rechtsrahmen, die ganz unterschiedliche Grenzen der freien Meinungsäußerung oder der Privatsphäre ziehen. Mitspracherechte wären daher gefordert, doch die Nutzer von Intermediären sind bislang im Wesentlichen auf die Rolle der Konsumenten von Facebook, Google und Co. reduziert. Und selbst eines der wenigen Druckmittel, das ihnen in dieser Rolle bliebe, nämlich der Stop der Nutzung und das Ausweichen auf alternative Anbieter, ist angesichts von Tendenzen zur Monopolbildung und den Hürden, Daten und Inhalte von einem Betreiber zu einem Wettbewerber zu migrieren, für viele Nutzer keine wirkliche Option.

Das ist das dritte und möglicherweise schwerwiegendste Problem, das Informationsintermediäre derzeit aufwerfen: Sie sind zentrale Infrastrukturen für gesellschaftliche Öffentlichkeit, aber keine öffentlichen Infrastrukturen. Sie werden von Konzernen betrieben, die sich bestimmten Verpflichtungen – wie der demokratischen Kontrolle und Mitbestimmung, der Transparenz oder auch der Steuerlast angesichts ungeheuer großer Profite – so weit wie möglich zu entziehen versuchen. Bleibt es dabei, verheißt diese Schieflage auf Dauer nichts Gutes für eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit.

Weiterführende Literatur

Hölig, Sascha / Uwe Hasebrink (2017): Reuters Institute Digital News Survey 2017. Ergebnisse für Deutschland. Arbeitspapier des Hans-Bredow-Instituts, Nr. 42. Online: https://www.hans-bredow-institut.de/de/publikationen/reuters- institute-digital- news-survey- 2017-ergebnisse-fuer-deutschland

Schmidt, Jan (2018): Social Media. 2. Auflage. Wiesbaden

Schweiger, Wolfgang (2017): Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern. Wiesbaden

Der Autor ist wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. Seine aktuellen Forschungsinteressen liegen in den Veränderungen, die soziale Medien wie Facebook, Twitter oder YouTube für Beziehungspflege, Informationsverhalten, politische Teilhabe und gesellschaftliche Öffentlichkeit bringen. Aktuelle Informationen sind auch in seinem Weblog unter www.schmidtmitdete.de zu finden.

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