10 Gebote der Digitalen Ethik (2016)

Wie können wir im Web gut miteinander leben?

Für die Thematisierung aktueller medienethischer Probleme brauchen wir auch Anregungen und Arbeitsmittel zu Fragen, die von Jugendlichen selbst als für sie relevant definiert werden.

Auf der von mehreren Landesmedienanstalten finanzierten Beratungsplattform juuuport.de stellten Jugendliche zahlreiche solche Fragen.
Unter Berücksichtigung dieser Fragen haben Studierende der Hochschule der Medien in Stuttgart “Leitlinien für ein rücksichtsvolles Miteinander“ entwickelt und sie unter dem anspruchsvollen Titel “10 Gebote der Digitalen Ethik“ veröffentlicht.
Zu jedem der Gebote wird versucht, den Kontext durch nachvollziehbare, alltagsnahe Geschichten zu verdeutlichen. Begründungen für Auswahl und Formulierung werden nicht gegeben

Das Ergebnis kann als zwölfseitige Broschüre über juuuport.de kostenfrei in Papierform bezogen oder als PDF-Datei heruntergeladen werden. Außerdem wird eine Postkarte mit den zehn Geboten auf der Vorderseite und einem kurzen Begründungstext auf der Rückseite angeboten.
Zusätzlich wird versucht, die Gebote als Bilderreihe unter dem Hashtag #10Gebote zu verbreiten.

“Es ist an der Zeit, sich darüber zu verständigen, wie ein gutes, gelingendes Leben in der digitalen Gesellschaft aussehen soll. Die zehn Gebote verstehen sich als Leitlinien, die helfen, die Würde des Einzelnen, seine Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit wertzuschätzen. Lasst sie uns achten!

  1. Erzähle und zeige möglichst wenig von Dir.
  2. Akzeptiere nicht, dass Du beobachtest wirst und Deine Daten gesammelt werden.
  3. Glaube nicht alles, was Du online siehst und informiere Dich aus verschiedenen Quellen.
  4. Lasse nicht zu, dass jemand verletzt und gemobbt wird.
  5. Respektiere die Würde anderer Menschen und bedenke, dass auch im Web Regeln gelten.
  6. Vertraue nicht jedem, mit dem Du online Kontakt hast.
  7. Schütze Dich und andere vor drastischen Inhalten.
  8. Messe Deinen Wert nicht an Likes und Posts.
  9. Bewerte Dich und Deinen Körper nicht anhand von Zahlen und Statistiken.
  10. Schalte hin und wieder ab und gönne dir auch mal eine Auszeit.“

Anmerkungen

Nutzbar als Arbeitsmittel zum Anstoß einer kritischen medienpädagogischen Reflexion, bei der die Jugendlichen als Experten in eigener Sache und unterstützt durch einige Leifragen um die Erarbeitung ihrer fachlichen Stellungnahmen zu diesem Forderungskatalog gebeten werden.

Dabei könnten über entsprechende Fragen auch die folgenden m.E. problematischen Aspekte thematisiert werden:

  • Die Definition der Leitlinien als “10 Gebote“ setzt die Thematik in einen relegiösen Kontext. Sie verweist nicht auf eine Anregung zu reflektierter Entscheidungsfindung, sondern auf das archaische Weltbild des Alten Testaments mit seinen nicht hinterfragbaren, Gehorsam verlangenden göttlichen Geboten. Damit wird auch die für eine demokratische Gesellschaft wichtige grundlegende Erkenntnis behindert, dass es bei der gemeinsamen Bearbeitung ethischer Fragen nicht um die Suche nach der jeweils einen richtigen Lösung geht und mithin nicht um “Leistungen des Suchens und Findens“, sondern um gemeinsame “Leistungen des Bestimmens“ (Hofstätter).
  • Die Thematik hat durchgängig sowohl individuell als auch gesellschaftlich relevante Anteile. Die “Gebote“ formulieren jedoch ausschließlich Forderungen an Individuen. Gesellschaftlich wichtige Forderungen werden ausgespart. Die Thematik wird damit unnötig “individualistisch verkürzt“ - anders als in den Grundsatzpapieren des Instituts für Digitale Ethik vorgesehen, das in die Entstehung der “10 Gebote“ eingebunden war.
    Dies lässt sich beheben, wenn man z.B. einen Blick wirft auf die vielfältigen Argumente in den Diskussionen um eine Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, um das Projekt Braucht Deutschland einen Digitalen Kodex?“ und um die zahlreichen Diskussionen und Förderprogramme im Kontext des aktuellen Forschungsrahmenprogramms der Bundesregierung “Selbstbestimmt und sicher in der digitalen Welt 2015-2020“ und des europäischen Rahmenprogramms für Forschung und Innovation “Horizon 2020“ .
  • Mit der ersten Forderung “Erzähle und zeige möglichst wenig von Dir“ werden Lebenswelt und Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen mißachtet. Die als Beispiel dazugehörende fiktive Geschichte schildert zudem nur einen sehr naiven Mediengebrauch und liefert keine erkennbare Begründung für das Gebot.
    Außerdem wird mit dieser Extremform der im Jugendschutz häufigen Empfehlung zur “Datensparsamkeit“ wiederum nur eine Forderung an Individuen erhoben. Der Begriff ist jedoch z.B. im Bundesdatenschutzgesetz im § 3a Datenvermeidung und Datensparsamkeit eindeutig als strukturelle Forderung definiert: “so wenig personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen.“
  • Auch die weiteren Gebote sprechen zwar wichtige Themen an, verkürzen sie jedoch ohne Begründungen zu Forderungen, die auch aus den dazugehörenden Geschichten so kaum nachvollziehbar erscheinen.

Statt Jugendlichen solche Imperative vorzusetzen sollten besser Gesprächs- und Eigenaktivitätsanlässe geschaffen und auf Basis eigener Erfahrungen gemeinsam Fragen und Verhaltensalternativen bearbeitet werden, wie sie in der Jugendarbeit zum Beispiel mit kreativen workshops wie “Du bist eine Marke - Personal Branding in Netzcommunitys“ und “Netzspionage – leicht gemacht!“ oder mit Methoden wie “Das bin ich“ und “Mein Profil in der Öffentlichkeit“ initiert werden. (Siehe hierzu auch die empfehlenswerte Publikation Medienbildung in der Jugendarbeit , S. 123 ff. ) Ein “Sensibilisieren ohne erhobenen Zeigerfinger“ versucht z.B. auch die zweistündige Unterrichtseinheit “Facebook: Mit Chancen und Risiken bewusst umgehen“.

Ergänzung

Interview zum Thema mit Prof. Dr. Petra Grimm auf dem IT-Gipfel 2016 des BMWi in Saarbrücken