“Digitale Demenz“ - eine Angstfantasie?

Den folgenden Ausschnitt aus einem Gespräch mit Heinz-Elmar Tenorth, emeritierter Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin finde ich gut geeignet als Gesprächsanstoß für Kleingruppenarbeit. Er kann mit eigenen Arbeitsfragen versehen und gegebenenfalls gekürzt werden

“Medien galten immer als die gefährliche Umwelt der Erziehung. In den historischen Texten sind das die Miterzieher, vor denen sich die Eltern und die Erzieher fürchten, weil sie die nicht kontrollieren können und damit nicht den Zugang zur Welt kontrollieren können, den die Kinder selbstständig haben.

Schon um 1800 ... waren alle Pädagogen ganz ängstlich besorgt und geradezu dramatisch darüber entsetzt, was sie die “Lesesucht der Kinder“ nannten. Als die Kinder erstmals anfangen konnten, selbst zu lesen, Texte zu lesen, haben die Pädagogen gleich befürchtet, dass sie alles Verderbliche der Welt dabei in sich aufnehmen. Und vor allem die jungen Mädchen, die die Romane lasen, waren ein Objekt der größten Sorge dieser Pädagogen. Und die haben die Lesesucht bekämpft, weil sie alles Schreckliche vermuteten, was man heute auch hören kann.

Heute nennt man das “digitale Demenz“, in den Texten des 18. Jahrhunderts ist das die Demenz, die das Lesen erzeugt, die das Rückgrat verändert, die bei Mädchen verhindert, dass sie brave und ordentliche Mütter werden.

Die Angstfantasien der Pädagogen vor den Medien sind riesengroß. Das fängt beim Lesen um 1800 an, das ist bei Texten um 1900, bei Filmen im frühen 20. Jahrhundert und bei Comics im späteren 20. Jahrhundert. Und heute sind das die Computerspiele. Pädagogen haben Kontrollfantasien, und Kontrollangst, die man ihnen offenbar nicht austreiben kann. Wenn Kinder sich selbst die Welt erobern, gilt das als gefährlich.“

Quelle: Deutschlandfunk Kultur, 8.11.2018