Bernhard Pörksen: Lehren aus dem Informationskrieg

Vortrag bei der re:publica 2022, 24:48 min

“Die Invasion in die Ukraine hat eine nie dagewesene Konfrontation von militärischer Gewalt und medialer Macht ausgelöst, ein Gegeneinander von Diktator und Schwarm. Die Leitfrage: Wie lassen sich Informationskontrolle und Propaganda-Narrative rechtzeitig und effektiv brechen? Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen entwickelt Vorschläge.“

Quelle

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, gliedert seinen Vortrag durch drei Fragen:

  1. Wie erreicht man diejenigen, die man nicht mehr erreicht – oder kaum noch?
  2. Wie kommt man vor die Welle der Desinformation? Wie wird Desinformationsbekämpfung schneller, bevor sie sich total festgesetzt hat?
  3. Wie gelingt eine Form der effektiven Medienbildung, die gleichzeitig als angewandter Demokratieschutz begriffen werden könnte?

Er beginnt seinen Vortrag mit einer “Geschichte von der Macht der Desinformation“: ein Vater in Russland glaubt beim Telefonat seinem in Kiew lebenden Sohn nicht, dass dort russische Bomben fallen. Der Sohn, Misha Katsurin, erzählt davon auf Instagram und erhält zahlreiche Kommentare von Ukrainern mit ähnlichen Erfahrungen.

Material dazu:
“Ich erzählte ihm ausführlich, was vor sich ging - mein Vater antwortete, das sei Unsinn, es gäbe keinen Krieg, und die Russen würden uns vor den Nazis retten, die aus Zivilisten menschliche Schutzschilde machten. Er sagte auch, dass russische Soldaten den ukrainischen Soldaten Lebensmittel und warme Kleidung geben würden.“ ( übersetzter Auszug aus der Originalquelle)
Mit der Einschätzung “Es gibt 11 Millionen Verwandte von Ukrainern in Russland“ entwickeln er und Freunde eine Initiative, mit diesen zu telefonieren und ihnen von den eigenen Erfahrungen zu berichten. Zur Unterstützung liefern sie eine Sammlung von typischen Falschinformationen und einige hilfreiche Vorschläge zur Gesprächsführung.
Auf Youtube sind darüber Berichte von ARTE Ukraine: Propaganda gegen wahre Nachrichten und von Der Spiegel Propaganda in Russland: Wenn der Vater dem Sohn nicht glaubt, dass Krieg in der Ukraine ist abrufbar. Auch eine offizielle Website der Ukraine berichtete darüber.

Zu 1.
Ausgehend von der Diagnose, dass in Russland versucht wird, eine komplette Informationskontrolle zu erreichen, nennt er mehrere Versuche, die dort verbreiteten Propagandamythen zu demontieren. Er hebt den Videoaufruf von Arnold Schwarzenegger hervor. Schwarzenegger beginnt mit dem ausführlichen Erzählen eigener bewegender Erlebnisse mit russischen Menschen, um diesen seine emotionale Verbundenheit und Wertschätzung zu vermitteln. Erst dann beginnt er mit wenigen Beispielen und in einfacher und bildhafter Sprache inhaltlich zu argumentieren und auch auf bekannte Gegenargumente einzugehen. Die Idee hinter Schwarzeneggers Intervention ist für Pörksen, die “Weisheit der Kommunikationspsychologie“ politisch zu nutzen, ihre auf Individuen bezogenen Erkenntnisse und Methoden für öffentliche Kommunikationsprozesse anzuwenden.

Material dazu: Artikel von Bernhard Pörksen in der NZZ: Weltbilder erschüttern mit Arnold Schwarzenegger – oder wie man Desinformation und Propaganda wirksam bekämpft

Zu 2.
Pörksen erzählt von den schnellen Reaktionen auf ein Deepfake-Video, in dem Präsident Selenskyj angeblich die ukrainischen Soldaten auffordert, die Waffen niederzulegen und aufzugeben. Er entwickelt die Idee einer präventiven Desinformationsbekämpfung (14:24), die mit Entwicklungsprognosen und Szenarien arbeitet, um frühzeitig aufklärerische Narrative zu entwickeln.

Material dazu:
Deepfake-Videos: Obacht, wen Selenskyj zur Kapitulation auffordert

Zu 3.
(ab 16:00) Pörksen nennt als Vorbild Finnland mit seinem in der Grundschule beginnenden “Critical Thinking Curriculum“, das dort bereits seit vielen Jahren praktiziert und wo Medienbildung auch als präventive Desinformationsbekämpfung verstanden werde.
Dieses Model nach Deutschland zu übertragen ist für ihn schwer vorstellbar. Gründe seien eine “föderalistisch zersplitterte Bildungslandschaft“ und die Lethargie, Technikfixierung und “wissende Ignoranz“ der Schulpolitik.
Eine Chance für Deutschland sieht er in einer Art “Graswurzelrevolution der Medienbildung“. Als Beispiel dafür nennt er (nur) die Aktivitäten der Vereins Journalismus macht Schule. Er sieht in deren Vermittlung der “Maximen des guten Journalismus“ erste Schritte zur Realisierung einer “Aufbruchsphantasie in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft“, wie er sie schon 2018 erhoffte.

Material dazu:
“Dort hat man schon vor dem Schock der Krim-Annexion 2014 und als Reaktion auf russische Desinformationskampagnen eine Medienbildung aufgebaut, die in Europa ihresgleichen sucht. Unter anderem gibt es ein «critical thinking curriculum», das darauf zielt, quer durch alle Fächer Quellenanalyse und Fact-Checking einzuüben, Manipulationstechniken zu analysieren und zu entlarven. Medienbildung wird als gesellschaftliche Aufgabe begriffen, die im Idealfall im Kindergarten beginnt. Ziel ist es, die eigene Urteilskraft zu stärken.“ (NZZ-Artikel)
How Finland starts its fight against fake news in primary schools (Artikel in The Guardian)
Eine gute erste Übersicht zur Medienkompetenzförderung in Finnland bietet die staatliche Behörde National Audiovisual Institute (KAVI): Finnish media education
Das Ministry of Education and Culture, zuständig für die nationale Medienbildungspolitik, veröffentlichte 2019 die unter breiter Beteiligung der (Fach-)Öffentlichkeit überarbeitete National media education policy
Fundierte Entscheidungen: Finnische Medienkompetenz verhindert Desinformation - Finnland besitzt eine lange Tradition in der Förderung der Medienkompetenz als entscheidendes Instrument für eine stabile Demokratie und gesunde Gesellschaft. Artikel auf der Website des finnischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten
Im Media Literacy Index 2021 der European Policies Initiative des Open Society Institute - Sofia belegte Finnland erneut den 1. Platz. (Der Index bewertet das “Resilienzpotenzial gegenüber Fake News“ in 35 europäischen Ländern).
Ein einfacher direkter Kausalzusammenhang mit der dortigen intensiven Förderung der Medienkompetenz ist damit allein allerdings nicht belegbar. Der Index ist zu interpretieren in einer differenzierten Zusammenschau mit den Aussagen einer langen Liste von Qualitätsindizes, die jeweils mit zahlreichen international erhobenen sozialen und ökonomischen Messwerten gut begründet werden. Finnland liegt dabei in Ländervergleichen regelmäßig an Spitzenpositionen.

In Deutschland betreibt die gemeinnützige Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) als bundesweiter Fachverband schon seit 1984 erfolgreiche medienpädagogische Basisarbeit. Sie setzt sich mit ihren rund 1000 aktiven Mitgliedern dafür ein, dass alle gesellschaftlichen Gruppen - von der vorschulischen Erziehung bis ins Alter - darin unterstützt werden, kreativ und kritisch mit Medien umzugehen. Mit ihrem Dieter Baacke Preis werden bundesweit herausragende Projekte der Medienarbeit ausgezeichnet und bekannt gemacht. Ihre aktive Fachgruppe Schule hat mehrfach Positionspapiere und fachliche Stellungnahmen zur Medienkompetenzförderung in der Schule veröffentlicht.
Für die schulische Thematisierung der starken Zunahme von Desinformationskampagnen gibt es in Deutschland bereits ein großes Angebot an Informationsmaterialien und Unterrichtsvorschlägen, z.B. sind bei Elixier 192 Einträge allein zu “Fake“ zu finden. Es fehlt jedoch eine über die KMK curricular abgesicherte, über alle Schuljahre spiralförmig aufgebaute Förderung eines übergreifenden explorativen und kritischen Denkens.
Die Aktivitäten des mittlerweile bundesweit tätigen Journalismus macht Schule – Verein zur Förderung von Informations- und Nachrichtenkompetenz e.V. wurden auf Initiative der Süddeutschen Zeitung und mit Unterstützung der Medienanstalt Berlin-Brandenburg und von zahlreichen Medienanbietern entwickelt.