Henning Fietze, Peter Willers, Grundsätze der Audioarbeit

Inhalt:

  1. Das Ohr lernt sehen
  2. Kinder und Jugendliche und deren Audiokompetenzen
  3. Vermittlung von Medienkompetenz

1. Das Ohr lernt sehen

Die technische Konservierung und Bearbeitung von Geräuschquellen, von der Drehorgel über die Schellack-Platte hin zur digitalen Tonaufzeichnung, war der Konservierung und der Bearbeitung von Bildern immer einige Jahrzehnte bis Jahre voraus. Auch in der PC-/Multimedia-Welt benötigen Geräusche kleinere Speicher, geringere Bitstreams, haben für die Bearbeitung einfachere Benutzeroberflächen, sind für Bearbeitungsprogramme weniger Mittel aufzuwenden. Die Leichtigkeit des Tons steht im Gegensatz sowohl zu seiner gesellschaftlichen Einschätzung als auch seiner wirkungspraktischen Bedeutung.

Die Überzeugungsfähigkeit von Audio kommt nicht von ungefähr: Geräusche existieren als Anzeichen für Leben und Dynamik, ein ruhiges Bild, zu dem Herzklopfen zu hören ist, sagt mehr als eine hektische Bildfolge aus. Geräusche sind ein Anzeichen von Leben, unterscheiden lebende von toten Gegenständen. Geräusche sind aber auch, gerade, wenn sie nicht einzuordnen sind, rätselhaft, Warnzeichen, machen Angst. Eine Nacht im Schlafsack im Wald macht deutlich, was alles existiert, was aber auch alles ungewohnt ist.

Die moderne Welt zeichnet sich durch neuartige Geräusche, durch Lautstärke - verstärkte Geräusche, aber auch durch Geräusch-Misch-Masch aus. Verschiedene Geräusche überlagern sich, geben völlig andere Informationen wieder, sind vielleicht auch schwer zu dechiffrieren, führen zu Fehlinterpretationen. Morgens sind Geräusche anders als mittags oder abends, montags anders als sonntags, und der Mensch muss diese Geräusche aufnehmen, erkennen und interpretieren.

Eigentlich sind Geräusche genauso flüchtig wie Bilder - Bilder bleiben jedoch "haften". Geräusche sind wirklich flüchtig, lassen sich nicht festhalten, höchstens imitieren und sind, weil rätselhaft, auch nicht immer so überzeugend. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Mechanische, elektrische, elektronische Methoden, Geräusche zu konservieren und bei Bedarf immer und immer wieder zu hören, bieten Orientierung. Um so kakophoner Geräusche sind, um so notwendiger wird diese Orientierung.

Menschliche Gesellschaft, organisiertes Miteinander, ist auf Geräusche als Informationsträger angewiesen, das Geräusch wird zum Klang, wird zur Sprache, wird zum Signal, vermittelt eine Botschaft. Sprache als abstrakter Träger von Bedeutung kann nur über Geräusche, Töne vermittelt werden - erst auf einer noch abstrakteren Ebene über Buchstaben. Während sich allerdings Sprache weiter entwickelt, mutiert, sich Einflüssen und Veränderungen anpasst, bleibt das Geräusch als solches immer gleich. Die Bedeutung dieses Geräusches allerdings kann sich ändern.

Während also Sprache und Musik bewusst wahrgenommen und oft auch bewusst bearbeitet werden, finden Töne, oder noch mehr Geräusche, in der Alltagswelt meist nur einen abstrakten Platz. Kommunikation als höchst realer Vorgang nutzt, um überhaupt funktionieren zu können, Geräusche als Träger harter und weicher Informationen.

Geräusche sind also auch ohne Bild Träger von Informationen - Arbeit mit Geräuschen, Audioarbeit, muss sich dieser Tatsache bewusst sein und kann sie nutzen.

Audioarbeit ist gesellschaftlich relevant. Der, wenn auch teilweise sekundäre, Konsum von Hörfunk ist immer noch höher als der von Fernsehen, und das quer durch die Bevölkerungsschichten. Audioarbeit führt durch die Attraktivität des Mediums aber auch an politische und gesellschaftliche Themen heran.

Audio bietet also Chancen, die ergriffen werden wollen.

2. Kinder und Jugendliche und deren Audiokompetenzen

Chancen ergreifen heißt, Möglichkeiten mit Notwendigkeiten und Voraussetzungen so zu kombinieren, dass der größtmögliche Effekt entsteht. Bietet Audioarbeit Besonderes im Umgang mit Kindern (hier: 1. - 6. Klasse) und Jugendlichen (hier: 7. - 13. Klasse)? Was zeichnet Kinder, was Jugendliche aus, das Bedeutung für den medienpädagogischen Alltag hat?

Kinder unterscheiden sich von Jugendlichen und Erwachsenen nicht nur dadurch, dass sie kleiner und jünger sind.

  • Kindheit definiert sich durch das Merkmal der Imitation. Unreflektiert werden andere nachgemacht, Lernen, Verhaltensänderung findet an Reaktionen des Umfeldes auf die Imitation statt.
  • Die Abstraktionsfähigkeit von Kindern ist gering. Während Emotionen deutliche erkennbar sind und auch leicht umschlagen, sind Kindern Werte, Einstellungen, Strukturen kaum bewusst.
  • Kinder verfügen über eine nur geringe Ausdauer bei der Erledigung von Aufgaben und werden schnell unkonzentriert. Alles, was keinen Spaß macht, wird nur ungern erledigt.
  • Kinder stecken voller Energie. Lebenslust, Kraft, Wachheit wird in Bewegung, nicht nur des Mundwerks, umgesetzt.
  • Neugierde ist ein typisches Kennzeichen von Kindern. Das Neue erkunden, auch Bekanntes immer wieder hinterfragen, bis der Sinn deutlich wird, auch Sachen erfragen, die eigentlich unwichtig sind - hier haben Kinder eine große Ausdauer.

Der Kindheit schließt sich die Jugend an.

  • Umfassendes Kennzeichen von Jugend ist die Antizipation, die Vorwegnahme vermuteten Verhaltens.
  • Die Abstraktionsfähigkeit von Jugendlichen ist für Naheliegendes vorhanden, für Fernes erst in späteren Jahren.
  • Jugendliche sind begeisterungsfähig, können sich schnell auf Experimente, auf Neues einlassen, etwas ausprobieren.
  • Erfolge helfen, Erlebtes und Handeln zu beurteilen, zu entscheiden, ob sich die Wiederholung lohnt. Projektorientiert können Jugendliche von Erfolgserlebnis zu Erfolgserlebnis Lernprozesse durchlaufen.

Natürlich sind die Jahrgangszuordnungen zur Entwicklungsstufe durchgängig und im Einzelfall fließend. Die Zugehörigkeit "Kind", "Jugendlicher" definiert sich deshalb über die Ausfüllung der Merkmale, unabhängig vom tatsächlichen Alter.

3. Vermittlung von Medienkompetenz

Eine der elementaren Voraussetzungen zum Leben und Arbeiten in den nächsten Jahrzehnten wird die Fähigkeit sein, Medien aktiv zu nutzen. Die Vermittlung von Medienkompetenz als gesellschaftliche, schulische, betriebliche, verbandliche und private Herausforderung ist damit eine pädagogische Herausforderung auf allen Lernebenen. Sinnvollerweise muss die Frage gestellt werden, welche Lernsituation geschaffen, was vermittelt werden soll.

Die hinlänglich attestierte Reizüberflutung mit Tönen und Bildern in der Lebenswelt Jugendlicher wie auch Erwachsener erfordert aber gerade auch neue Hörkompetenzen und Informationsselektionen. Töne, Geräusche und Sprache können, genau wie bewegte Bilder, auf dreierlei Arten verstanden werden: kognitiv begrifflich, instrumental und intuitiv/emotional. Wird Medienarbeit im Bereich Audio aktiv, so sollte sie diese Faktoren in ihren Kompetenzen und Projekten verankern.

Video und Multimedia sind "in". Der pädagogische Alltag zeigt jedoch, dass in der Praxis nicht jedes Medium, nicht jeder Inhalt in jeder Altersstufe gelehrt werden kann. Insbesondere bei Kindern, also Personen, die jünger als zwölf bis vierzehn Jahre sind, wird in der Praxis schnell deutlich, dass

  • im Umgang mit dem PC das Spielerische überwiegt und erst bei älteren Kindern teilweise eine Auseinandersetzung mit dem Medium erfolgt,
  • der Umgang mit Bildern unreflektiert und kaum beeinflussbar ist.

In der Praxis geht mit Kindern jedoch die Audio-Arbeit leicht von der Hand. Die Beobachtung eines verträumt eine "Benjamin Blümchen"-Kassette hörenden Kindes findet hier pädagogisches Pendant.

  • Audioarbeit ist einfach
    Audioarbeit wird mit einfachen Geräten, die leicht zu bedienen sind, durchgeführt. Audiotechnik schreckt hier nicht ab, sondern ist intuitiv nutzbar und daher leicht zu erlernen.
  • Audioarbeit schärft das Gehör
    Bei Audioarbeit spielen Sprache und Geräusche eine Rolle - die ungewohnte Sicht auf die Umwelt öffnet neue Sichtweisen, Töne, Geräusche, Klänge, Sprache können analysiert, getrennt, einzeln betrachtet und beliebig wieder zusammengefügt werden.
  • Audioarbeit ist schnell
    Aufnahme, Bearbeitung, Sendung: Bei einer Audioproduktion vergeht wenig Zeit. Schnitt und Nachbearbeitung erfolgen in kurzen Intervallen.
  • Audioarbeit konserviert Flüchtiges
    Geräusche können ihrer Flüchtigkeit entfliehen und festgehalten werden. Erst Festgehaltenes ermöglicht durch Wiederholung eine kindgemäße Analysemöglichkeit.
  • Audioarbeit macht Töne begreifbar
    In der Arbeit mit Tonband und Bandmaschinen können die Aufnahmen ganz handwerklich geschnitten werden. Die Bandlänge visualisiert die Länge der Aufnahme, Tonschnipsel und Toncollagen werden auch haptisch "begreifbar".
  • Audioarbeit ist nicht auf Hörfunknormen beschränkt
    Audioformen außerhalb der allgegenwärtigen Radionorm, also auch Toncollagen oder Geräuschmusik, sind einfach zu erstellen.
  • Audioarbeit im Offenen Kanal ist offen für Experimente
    Experimente mit Tönen und Geräuschen, Rückkopplungen oder Verfremdungen von Stimmen, Soundscapes sind faszinierend und erlernbar. Ein Experiment ist leicht zu realisieren.
  • Audioarbeit fördert die Sprachfertigkeit
    Fast alles lässt sich in Worte fassen, muss sich bei Audio in Sprache fassen lassen. Die Beschränkung auf Worte fördert die volle Konzentration auf Sprache.
  • Audioarbeit fördert Phantasie
    Das Nichtvorhandensein des Bildes öffnet einen Raum für Phantasie und bietet deshalb einen großen kreativen Spielraum.
  • Audioarbeit unterstützt abstraktes Denken
    Die Notwendigkeit, Außenstehenden einen Zusammenhang rein sprachlich zu vermitteln, erfordert, je nach Einzelfall, ein hohes Abstraktionsniveau.
  • Audioarbeit führt kleine Projekte zu komplexen Handlungspaketen zusammen
    Von der Aufnahme kleiner Töne und Geräusche über deren Bearbeitung bis hin zu deren Einbindung in einen größeren Zusammenhang und der anschließenden Sendung entstehen Pakete, die zu einer Audioproduktion verbunden werden.
  • Audioarbeit schafft Erfolgserlebnisse
    Der Zusammenhang zwischen einer Tätigkeit und deren Erfolg wird kurzfristig hergestellt und als Erlebnis erfahrbar gemacht.

Die Möglichkeiten von medienpädagogischer Audioarbeit lassen sich also gut gerade auf die Anforderungen an den Umgang mit Kindern abstimmen - dies erklärt die guten Einsatzmöglichkeiten und bietet eine Grundlage für die differenzierte Auseinandersetzung mit Geräuschen, mit Sprache, mit Musik.

Quelle:

Henning Fietze, Peter Willers
Floh im Ohr - Ein neues Konzept zur Audioarbeit im ländlichen Raum, Kiel (ULR) 1999,Graue Reihe Bd.19, S. 5-8;
Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber: Unabhängige Landesanstalt für das Rundfunkwesen