Vorbemerkung:
Die Gesellschaft für Informatik e.V. (GI) hatte im August 2015 ihre 3. Dagstuhl-Erklärung zur Informatischen Bildung in der Schule veröffentlicht – mit einer professionspolitischen Argumentation, die die seit Jahren (auch in der GI) geführte Diskussion um heute notwendige interdisziplinäre Zugänge ausblendete (Kurzkommentar). Anfang 2016 veranstalteten dann Didaktiker/innen der Informatik zusammen mit Experten/innen aus Medienpädagogik, Schulpädagogik und Wirtschaft ein weiteres Treffen in Dagstuhl. Hier wurden dann auch der in der Medienpädagogik seit Dieter Baacke gängige mehrperspektivische Zugang und der in der GMK bevorzugte "integrative Ansatz“ thematisiert und auf die aktuelle Entwicklung bezogen. Angeregt durch die überarbeitete Struktur des Teillehrplans Medien und Informatik im Lehrplan 21 wurde gemeinsam eine von allen getragene, didaktisch reduzierte und auch für Nichtfachleute verständlich formulierte Positionsbetimmung erarbeitet, die “Zuständigkeit“ signalisierende Begriffe vermeidet. Hervorgehoben wird, dass die Erscheinungsformen der Digitalisierung nicht isoliert betrachtet, sondern jeweils unter gesellschaftlich-kultureller, unter technologischer und unter anwendungsbezogener Perspektive betrachtet und hinterfragt werden müssen. Die zur Veranschaulichung entwickelte Grafik wird in einem zusätzlichen Erklärvideo erläutert. (G.Thiele)

Dagstuhl-Erklärung: Bildung in der digitalen vernetzten Welt (2016)

Diese Erklärung richtet sich an Institutionen des Bundes und der Länder, an Bildungsexpert_innen und Praktiker_innen im Bildungswesen. Sie wurde in einem GI-Dagstuhl Seminar im Februar 2016 von Expert_innen aus der Informatik und ihrer Didaktik, der Medienpädagogik, der Wirtschaft und der Schulpraxis verfasst.

In gemeinsamer Verantwortung von Medienpädagogik, Informatik und Wirtschaft fordern wir:

  1. Bildung in der digitalen vernetzten Welt (kurz: Digitale Bildung) muss aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive in den Blick genommen werden.
  2. Es muss ein eigenständiger Lernbereich eingerichtet werden, in dem die Aneignung der grundlegenden Konzepte und Kompetenzen für die Orientierung in der digitalen vernetzten Welt ermöglicht wird.
  3. Daneben ist es Aufgabe aller Fächer, fachliche Bezüge zur Digitalen Bildung zu integrieren.
  4. Digitale Bildung im eigenständigen Lernbereich sowie innerhalb der anderen Fächer muss kontinuierlich über alle Schulstufen für alle Schüler_innen im Sinne eines Spiralcurriulums erfolgen.
  5. Eine entsprechend fundierte Lehrerbildung in den Bezugswissenschaften Informatik und Medienbildung ist hierfür unerlässlich. Dies bedeutet:
  • Ein eigenständiges Studienangebot im Lehramtsstudium, das Inhalte aus der Informatik und aus der Medienbildung gleichermaßen umfasst, muss eingerichtet werden.
  • Die Fachdidaktiken aller Fächer und die Bildungswissenschaften müssen sich der Herausforderung stellen und Forschung und Konzepte für Digitale Bildung weiterentwickeln.
  • Umfassende Fort und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive müssen kurzfristig eingerichtet werden.

Bis diese Forderungen umgesetzt sind, bedarf es kurzfristiger Maßnahmen, die direkt die Schüler_innen und Lehrer_innen adressieren, z. B. unter Einbezug außerschulischer Lernorte und externer Expert_innen und Bildungspartner.

Digitale Kultur und Bildung

Wir leben in einer digital geprägten Gesellschaft, die eine eigene Kultur in Lebens und Arbeitswelt hervorbringt. Schule muss sich daher der Frage nach Bildung in der digitalen vernetzten Welt umfassend stellen. Ohne Verständnis der grundlegenden Konzepte der digitalen vernetzten Welt können Bildungsprozesse heute nicht zukunftsfähig gestaltet werden.

Kernaufgaben der Allgemeinbildung wie Förderung von Verantwortungsbewusstsein, Urteilsfähigkeit, Kreativität, Selbstbestimmtheit, Partizipation und Befähigung zur Teilnahme am Arbeitsleben stellen sich unter den veränderten Bedingungen neu. Für die Bewältigung dieser Aufgaben müssen Inhalte und Kompetenzen der Informatik und Medienbildung verknüpft und verpflichtend im Curriculum aller Schulformen verankert werden.

Fragen nach der Digitalen Bildung betreffen auch die Nutzung von digitalen Medien als Werkzeug für das Lernen und die Schulinfrastruktur. Sie können den Zugang zum Lernen und Schule grundlegend verändern, wenn dies didaktisch sinnvoll und reflektiert geschieht. Insbesondere muss die Heterogenität der Schüler_innen berücksichtigt werden, um allen einen gleichberechtigten Zugang zu ermöglichen. Auch für die erfolgreiche Nutzung der digitalen Werkzeuge zum Lernen sind informatische und medienpädagogische Grundkonzepte notwendig.

Perspektiven der Digitalen Bildung

Die digitale vernetzte Welt beeinflusst mit ihren Phänomenen, Artefakten, Systemen und Situationen die Lebenswelt der Schüler_innen und direkt oder indirekt den Unterricht.

Um den Bildungsauftrag zu erfüllen und eine nachhaltige und strukturell verankerte Bildung für die digitale vernetzte Welt zu gewährleisten, müssen in der Schule daher die Erscheinungsformen der Digitalisierung unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Jede Erscheinungsform hat sowohl technologische, gesellschaftlich-kulturelle als auch anwendungsbezogene Aspekte, die sich gegenseitig beeinflussen. Daher kann nur deren gemeinsame didaktische Bearbeitung zu einer fundierten und nachhaltigen Bildung in der digitalen vernetzten Welt führen.

Diese umfassende Betrachtungsweise geht über die bisher oftmals praktizierte, isolierte Betrachtung einzelner Aspekte hinaus. Schüler_innen sollen dazu befähigt werden, selbstbestimmt mit digitalen Systemen umzugehen. Dies erfordert, sie zu verstehen, zu erklären, im Hinblick auf Wechselwirkungen mit dem Individuum und der Gesellschaft zu bewerten sowie ihre Einflussmöglichkeiten zu sehen und nicht nur ihre Nutzungsmöglichkeiten zu kennen.

Um diese Aspekte im Unterricht in den Blick zu nehmen, müssen die Erscheinungsformen unter der jeweiligen Perspektive wie folgt betrachtet und hinterfragt werden:

grafik

  • Die technologische Perspektive hinterfragt und bewertet die Funktionsweise der Systeme, die die digitale vernetzte Welt ausmachen. Sie gibt Antworten auf die Frage nach den Wirkprinzipien von Systemen, auf Fragen nach deren Erweiterungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Sie erklärt verschiedene Phänomene mit immer wiederkehrenden Konzepten. Dabei werden grundlegende Problemlösestrategien und -methoden vermittelt. Sie schafft damit die technologischen Grundlagen und Hintergrundwissen für die Mitgestaltung der digitalen vernetzten Welt.
  • Die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive untersucht die Wechselwirkungen der digitalen vernetzten Welt mit Individuen und der Gesellschaft. Sie geht z. B. den Fragen nach: Wie wirken digitale Medien auf Individuen und die Gesellschaft, wie kann man Informationen beurteilen, eigene Standpunkte entwickeln und Einfluss auf gesellschaftliche und technologische Entwicklungen nehmen? Wie können Gesellschaft und Individuen digitale Kultur und Kultivierung mitgestalten?
  • Die anwendungsbezogene Perspektive fokussiert auf die zielgerichtete Auswahl von Systemen und deren effektive und effiziente Nutzung zur Umsetzung individueller und kooperativer Vorhaben. Sie geht Fragen nach, wie und warum Werkzeuge ausgewählt und genutzt werden. Dies erfordert eine Orientierung hinsichtlich der vorhandenen Möglichkeiten und Funktionsumfänge gängiger Werkzeuge in der jeweiligen Anwendungsdomäne und deren sichere Handhabung.

Am Bereich der Kommunikation und Kooperation zeigt sich das Zusammenwirken der Perspektiven exemplarisch: Digitale Kommunikation und Kooperation ist eine Voraussetzung der Teilnahme an allen Lebensbereichen (sozial, kulturell, ökonomisch, politisch) geworden. Für viele Menschen ist sie ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags. Um in diesen Kontexten souverän handeln zu können, müssen technologische, gesellschaftlich-kulturelle und anwendungsbezogene Aspekte ganzheitlich verstanden werden. So setzt z. B. die selbstbestimmte Nutzung sozialer Netzwerkplattformen oder Apps alle drei Aspekte zwingend voraus: Man muss zunächst sachgerecht damit umgehen, indem man z. B. die notwendigen Sicherheits- und Privatsphäre-Einstellungen vornimmt. Aber erst mit Kenntnis der technischen Wirkungsweise beispielsweise zugrundeliegender Algorithmen werden die Nutzer_innen sich bewusst, dass sie sich dabei in einem von Menschen entworfenen, technischen Kommunikationsraum mit entsprechenden Konsequenzen für ihre Daten bewegen und können entsprechend souverän handeln. Auch die Bedeutung von Metadaten und Verknüpfungsmöglichkeiten müssen bekannt sein, wenn die Folgen der eigenen Kommunikationen verstanden werden sollen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass erst die Kenntnis bzw. Beherrschung aller Perspektiven die Urteilsfähigkeit sowie die kompetente, kritische und differenzierte Nutzung begründen.

Quellen: Keine Bildung ohne Medien, Gesellschaft für Informatik