Wiener Manifest für Digitalen Humanismus (2019)

»The system is failing«— so Tim Berners-Lee. Der Gründer des Web betont, dass die Digitalisierung zwar beispiellose Möglichkeiten eröffnet, aber auch ernste Bedenken aufwirft: die Monopolisierung des Web, die Ausbreitung extremistischer Verhaltensmuster, die von sozialen Medien orchestriert werden, ebenso wie Filterblasen und Echokammern als Inseln entkoppelter "Wahrheiten", der Verlust der Privatsphäre sowie die weite Verbreitung digitaler Überwachungstechnologien. Digitale Technologien verändern die Gesellschaft fundamental und stellen unser Verständnis in Frage, was unsere Existenz als Menschen ausmacht. Viel steht auf dem Spiel. Die Herausforderung einer gerechten und demokratischen Gesellschaft mit dem Menschen im Zentrum des technologischen Fortschritts muss mit Entschlossenheit und wissenschaftlichem Einfallsreichtum bewältigt werden. Technologische Innovation erfordert soziale Innovation und diese erfordert ein breites gesellschaftliches, demokratisches Engagement.

Dieses Manifest ist ein Aufruf zum Nachdenken und Handeln angesichts der aktuellen und zukünftigen technologischen Entwicklung. Wir wenden uns an unsere akademischen Communities, aber auch an Pädagog*innen, Führungskräfte aus der Industrie, Politiker*innen, politische Entscheidungsträger*innen und Fachgesellschaften auf der ganzen Welt: Mischt Euch ein und beteiligt Euch! Es geht um die Mitgestaltung der Politik mittels Expertise und öffentlichem Engagement, wo und wie auch immer das möglich ist. Unsere Forderungen sind das Ergebnis eines sich entfaltenden Prozesses, der Wissenschafter*innen und Praktiker*innen aus verschiedenen Bereichen und Themen zusammenbringt und der von Sorgen und Hoffnungen um die Zukunft geprägt ist. Wir sind uns unserer gemeinsamen Verantwortung für die aktuelle Situation und die Zukunft bewusst - sowohl als Expert*innen als auch als Bürger*innen.

Wir erleben die Ko-Evolution von Technologie und Mensch. Die Metamorphose vom eigenständigen Computer zu einem weltweit vernetzten System führt zu einer globalen industriellen und gesellschaftlichen Revolution. Eine Flut von Daten, Algorithmen und Rechenleistung beeinflusst unser gesellschaftliches Gefüge in fundamentaler Weise. Menschliche Interaktionen, gesellschaftliche Institutionen, Volkswirtschaften, politische Strukturen sowie die Wissenschaften werden verändert. Dieser Wandel schafft und bedroht Arbeitsplätze, schafft und zerstört Wohlstand, verschiebt Machtstrukturen und hat massive ökologische Auswirkungen, im Guten wie im Schlechten. Die bisherigen Grenzen zwischen dem Persönlichen und Professionellen, dem Privaten und Öffentlichen sowie zwischen Mensch und Maschine verschwimmen.

Im Zentrum steht der Ruf nach Aufklärung und Humanismus. Der revolutionäre Aspekt der Informatik hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, menschliche Aktivitäten zu automatisieren. Bereits jetzt übertreffen Maschinen bei vielen Aufgaben das, was der Mensch an Geschwindigkeit, Präzision und sogar analytischer Ableitung leisten kann. Es ist an der Zeit, humanistische Ideale mit einer kritischen Reflexion des technischen Fortschritts zu kombinieren. Wir verknüpfen dieses Manifest daher mit der intellektuellen Tradition des Humanismus, die am Weg zu einer aufgeklärten Moderne stets im Zentrum gestanden ist.

Wie alle Technologien entstehen auch digitale Technologien nicht aus dem Nichts. Sie sind durch implizite und explizite Entscheidungen geprägt und beinhalten Werte, Normen, wirtschaftliche Interessen und Annahmen darüber, wie die Welt ist oder sein sollte. Viele dieser Optionen bleiben in Softwareprogrammen und deren Algorithmen verborgen. In Anlehnung an die Tradition des renommierten Wiener Kreises und anderer Denkströmungen der Moderne drängen wir auf kritisches rationales Denken und interdisziplinäre Zusammenarbeit, um die Zukunft aktiv zu gestalten.

Wir müssen Technologien nach menschlichen Werten und Bedürfnissen formen, anstatt nur zuzulassen, dass Technologien Menschen formen. Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, die Nachteile der Informations- und Kommunikationstechnologien einzudämmen, sondern vor allem auch darin, von Beginn an menschenzentrierte Innovationen zu fördern. Wir fordern einen Digitalen Humanismus, der das komplexe Zusammenspiel von Technologie und Menschheit beschreibt, analysiert und vor allem beeinflusst, für eine bessere Gesellschaft und ein besseres Leben unter voller Achtung universeller Menschenrechte.

Zusammenfassend verkünden wir folgende Kernforderungen:

  • Digitale Technologien sollen so gestaltet sein, dass sie Demokratie und Inklusion fördern. Dies wird besondere Anstrengungen erfordern, um derzeitige Ungleichheiten zu überwinden und das emanzipatorische Potenzial digitaler Technologien zu nutzen – und damit unsere Gesellschaft inklusiver zu gestalten zu können.
  • Privatsphäre und Redefreiheit sind Grundwerte, die im Mittelpunkt unserer Aktivitäten stehen sollen. Daher müssen Strukturen wie soziale Medien oder Online-Plattformen derart geändert werden, dass freie Meinungsäußerung, Verbreitung von Informationen und Privatsphäre besser geschützt sind.
  • Es müssen wirksame Vorschriften, Gesetze und Regeln festgelegt werden, die auf einem breiten Diskurs beruhen. Sie sollen Fairness und Gleichheit, Verantwortlichkeit und Transparenz von Softwareprogrammen und Algorithmen sicherstellen.
  • Die Regulierungsbehörden müssen gegenüber Technologiemonopolen intervenieren. Die Wettbewerbsfähigkeit des Marktes muss wiederhergestellt werden, da Tech-Monopole die Marktmacht ausnutzen und Innovationen ersticken. Staaten sollen nicht alle Entscheidungen den Märkten überlassen.
  • Entscheidungen, deren Folgen die individuellen oder kollektiven Menschenrechte betreffen können, müssen weiterhin vom Menschen getroffen werden. Die Entscheidungsträger*innen müssen für ihre Entscheidungen verantwortlich und haftbar sein. Automatisierte Entscheidungssysteme sollen die Entscheidungsfindung durch den Menschen nur unterstützen und nicht ersetzen.
  • Wissenschaftliche Ansätze über verschiedene Disziplinen hinweg sind Voraussetzung, um die Herausforderungen zu meistern. Technologische Disziplinen wie die Informatik müssen mit den Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften zusammenarbeiten, um disziplinäre "Silos" zu durchbrechen.
  • Universitäten sind der Ort, an dem neues Wissen erzeugt und kritisches Denken geschärft wird. Sie haben daher eine besondere Verantwortung, und sollen sich dessen auch bewusst sein.
  • Akademische und industrielle Forscher*innen müssen sich in einem offenen Dialog mit der Gesellschaft auseinandersetzen und ihre Ansätze reflektieren. Diese Überlegungen müssen in die tatsächlichen Praktiken der Erzeugung neuen Wissens und neuer Technologien eingebettet werden und gleichzeitig die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft verteidigen.
  • Praktiker*innen auf der ganzen Welt sollen sich der gemeinsamen Verantwortung für die Auswirkungen der Informationstechnologien stellen. Es muss ein gemeinsames Verständnis darüber entstehen, dass keine Technologie neutral ist: Sowohl deren potenzielle Vorteile als auch mögliche Nachteile müssen erkannt und von Praktiker*innen weltweit in der Umsetzung berücksichtigt werden.
  • Es bedarf einer Vision für neue Bildungsinhalte, die Wissen aus den Geistes-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften kombinieren. Im Zeitalter der automatisierten Entscheidungsfindung und Künstlichen Intelligenz sind Kreativität, Reflexion und die Berücksichtigung menschlicher Aspekte für die Ausbildung zukünftiger Informatiker*innen und anderer Berufsgruppen von entscheidender Bedeutung.
  • Die Ausbildung in der Informatik und die Bildungsarbeit über ihre gesellschaftlichen Auswirkungen muss so früh wie möglich beginnen. Ziel ist es, den Lernenden zu ermöglichen, sowohl IKT-Kenntnisse als auch das Bewusstsein für die betreffenden Themen zu entwickeln.

Wir stehen an einem wichtigen Kreuzungspunkt in Richtung Zukunft. Wir müssen handeln und die richtige Richtung einschlagen!

Wien, Mai 2019

Hannes Werthner, TU Wien, Österreich
Edward A. Lee, UC Berkeley, USA
und 30 weitere Autoren/innen

Quelle

Youtubekanal der Digital Humanism initiative

Vienna Manifesto on Digital Humanism - Prof. Edward A. Lee

Quelle