Malte Spitz, Die digitale Entwicklung in die eigene Hand nehmen (2018)

Wie beim Umweltschutz braucht es auch im Umgang mit der Digitalisierung einen Dreiklang von Regulierung, Innovationsanreizen und Aktivierung des einzelnen Menschen.

Auch wenn es mittlerweile wie eine Floskel klingt, dass die Digitalisierung alle Lebensbereiche ändern wird, so ist es doch eine Wahrheit und sollte als Weckruf an die Gesellschaft und an jeden Einzelnen wahrgenommen werden, sich mit der Digitalisierung und Verdatung unseres Alltages zu beschäftigen. Medikamente, die aus unserem Körper heraus Informationen senden, Reihenhäuser, die vollvernetzt und autonom den Energieverbrauch regeln, und Roboter, die nicht länger Assistenten unserer Arbeit sind, sondern uns zum Assistenten von ihnen machen: Dies mag für den einen eine Horrorvorstellung sein, für andere klingt es wie eine wunderbare Zukunft.

Doch es sollte für alle Aufforderung sein, über die Ausgestaltung unserer digitalen Welt zu streiten. Wenn die Veränderungen in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich so weitreichend sein werden wie beschrieben, sollte sich die Gesellschaft darüber jetzt verständigen, welche Ziele und Werte mit diesem technischen Wandlungsprozess verbunden sind, und die Spielregeln dafür festlegen.

Die Umweltgesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte entwickelte einen Dreiklang von Instrumenten: klare Regulierung, Innovationsziele und -anreize und Aktivierung des einzelnen Menschen, vor allem in seiner Rolle als Verbraucher/in. Dieser Akkord gehört auf die digitale Welt übertragen, um den Regulierungsrahmen der Zukunft zu setzen. Es geht um klare Regulierung, dessen was erlaubt und auch was verboten ist. Es wäre sinnvoll festzuschreiben, dass automatisierte Entscheidungssysteme, umgangssprachlich und verkürzt oft als «Algorithmen» beschrieben, z. B. keine Entscheidungen im Justizsystem treffen dürfen, etwa darüber, wer in Untersuchungshaft kommt oder bei wem Meldeauflagen verstärkt werden. Technisch sind solche Lösungen schon im Einsatz, zum Beispiel in den USA.

Als Gesellschaft sollten wir festlegen, wo automatisierte Entscheidungen in nachvollziehbarer Weise getroffen werden sollen, oder auch nicht. In der Umweltgesetzgebung kennen wir solche Regelungen auch, bestimmte Substanzen sind komplett verboten und andere nur eingeschränkt nutzbar, sie sind kenntlich zu machen oder es gibt andere Auflagen.

Zweitens geht es um Innovationsanreize. Sie könnten den überfälligen Wettbewerb lostreten, gesellschaftlich wichtige Ziele tatsächlich in neue Anwendungen und Produkte umzusetzen. Aus der Umweltregulierung kennen wir bereits Grenzwerte, die einzuhalten sind, oder den Top-Runner-Ansatz in Japan, der den aktuell besten Energieverbrauch in einer Produktklasse zum zukünftigen Standard macht. Bei digitalen Anwendungen und Angeboten kann es um Fragen der Verschlüsselungsstandards, Sicherheitsvorkehrungen oder andere Qualitätsstandards gehen. Diskutieren wir aktuell über emissionsfreie Mobilität, diskutieren wir in Zukunft über dezentrale und datenschutzfreundliche Systeme künstlicher Intelligenz.

Eine Zielvorstellung formulieren

Entscheidend für den Erfolg einer Regulierung ist, den einzelnen Menschen aufzuklären und zu aktivieren. Man kann die besten Datenschutzgesetze haben, es nützt nichts, wenn diese im Alltag der Menschen keine Rolle spielen und Einwilligungen geklickt werden, wie die Taste beim Flipperspielen. Die Aktivierung jedes Einzelnen, sich im Sinne eines selbstbestimmten, sicheren und offenen Lebens in der Digitalisierung zu verhalten, ist entscheidend. Die Umweltpolitik, die ähnlich in den vergangenen Jahrzehnten wirkte, kann da durchaus als Mutmacher dienen, denn die internationale Dimension der Aufgabe, die Finanzkraft der beteiligten Akteure und die Interessensverquickungen staatlicherseits sind bei Digitalisierung und Daten ähnlich wie bei Öl oder Kohle.

Um diesen Dreiklang durchzusetzen, braucht es aber eine gemeinsame Vorstellung, welche Ziele und Werte mit der Digitalisierung erhalten, gestärkt oder neu geschaffen werden sollen. In der Umweltpolitik war es übergeordnet der Nachhaltigkeitsgedanke, der Menschen antrieb, anders zu handeln und zu konsumieren, um eine lebenswerte Welt für alle Menschen, insbesondere zukünftige Generationen, zu erreichen. Dieses Mitdenken zukünftiger Generationen fehlt bisher im Digitaldiskurs. Die Digitalisierung ist mit der Koppelung an den Innovationsbegriff vor allem ein Bezugspunkt für die Verbesserung des Lebens des Einzelnen im Hier und Jetzt. Es gibt noch keinen Fortschrittsgedanken, der mit dem digitalen Wandel verbunden ist.

Dabei geht es gerade nicht um die Technik an sich, sondern um den gesellschaftlichen Fortschritt, bessere Bildung, mehr Teilhabe oder höhere Einkommen für alle Menschen. Welche Auswirkung eine Komplettverdatung unseres Alltagslebens zum Beispiel für zukünftige Generationen haben wird, wird bisher gar nicht in die Abwägung mitaufgenommen. Dabei wissen wir doch: Gerade junge Menschen brauchen Entwicklungsräume, sich auch einmal unbeobachtet entfalten zu können, etwas auszuprobieren, ohne dass es direkt das zukünftige Leben komplett beeinflusst. Dies wird aber fehlen, wenn jede Regung, jede Handlung in der einen oder anderen Form als Datensatz vorkommt, seien es Gesundheitsdaten, Aufenthaltsdaten oder jede soziale Kommunikation, die digital gestützt stattfindet. Statt nur über den Einfluss auf uns nachzudenken, sollten wir im Digitaldiskurs auch die zukünftigen Generationen mitdenken.

Federated Learning statt Big Data

Wenn man dieses Mitdenken schafft und dann Ziele erarbeitet, wie die digitale Welt aus unserer Sicht aussehen soll, welche Werte, Bedingungen und Gesetze einzuhalten sind, kann nach diesen die zukünftige Entwicklung gestaltet werden. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung rund um maschinelles Lernen und die Bestrebungen zur weiteren Erforschung künstlicher Intelligenz. Derzeit lautet das Mantra, wir brauchen alle verfügbaren Daten, egal ob Nachrichteninhalte, Maschinendaten oder menschliche Kommunikation, um damit Systeme zu trainieren, seien es Übersetzungsfähigkeiten, Diagnosemöglichkeiten oder soziale Bewertungen. «Big Data» bestimmt das Vorgehen: Alle Daten zusammentragen, um zukünftig zu schauen, was man damit anstellen kann, und um automatisierte Entscheidungssysteme damit zu trainieren.

Was ist aber, wenn wir als Gesellschaft festlegen, dass wir riesige Datenmonopole ablehnen, wir es nicht länger akzeptieren, dass 90 Prozent der verwertbaren Daten in den Datencentern einer Handvoll Unternehmen liegen? Solche Ziele würden genau die Innovationsanreize setzen, um das bisherige System der zentralen Datenspeicherung und -verarbeitung zu hinterfragen und Alternativen aufzuzeigen. Im konkreten Beispiel gibt es dies schon.

Google arbeitet an der Idee des «federated learning», also verteiltes Lernen statt zentralisierter Ansätze. Statt an wenigen Orten weltweit die Daten zu horten und für maschinelle Lernprozesse zu verwenden, also die Objekterkennung auf einem Bild, die Spracherkennung einer Unterhaltung, soll dieser Prozess dezentral stattfinden. Verteilt auf Millionen oder Milliarden Endgeräten,dem Smartphone zum Beispiel. Künstliche neuronale Netze, die in diesen Endgeräten wirken, die persönliche Daten lokal verarbeiten und damit nicht weitergeben. Lediglich die Verbesserung an sich wird weitergegeben, diese lässt aber keine Rückschlüsse auf die genutzten persönlichen Daten zu.

Auch in der digitalen Zukunft gilt, wo ein Ziel, da ist auch ein Weg. Wir müssen uns befreien von der Ohnmacht, mit der wir oft der Digitalisierung gegenüberstehen, befreien von der Sprachlosigkeit gegenüber den rasanten Entwicklungen und stattdessen selber bestimmen, wie unsere digitale Zukunft aussehen soll, selber gestalten, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Dafür müssen wir gemeinsame Ziele festlegen und diese in einem umfassenden Regulierungsrahmen wie in dem beschriebenen Dreiklang, mindestens europäisch, noch besser international, durchsetzen.

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Quelle: Böll.Thema - Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung