Medienkompetenz 2.0 - Impulse für eine vernetzte Bildungs- und Medienpolitik,
Beschluss des Parteitags der SPD 2007

Medienkompetenz als Schlüsselqualifikation in der digitalen Welt

Medien sind zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Alltags geworden. Sie sind in allen Lebensbereichen - Familie, Bildung, Arbeit, Freizeit - von Bedeutung und eröffnen nie da gewesene Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Politik ist gefordert, diesen Prozess mitzugestalten, die daraus resultierenden Chancen zu ergreifen und mögliche Gefahren zu vermeiden. Wir wollen diese Entwicklung nutzen, um die freiheitliche politische Teilhabe und den Zugang zum Wissen zu erweitern. Gleichzeitig gilt es, eine drohende Spaltung unserer Gesellschaft zu verhindern. Mit den neuen Möglichkeiten steigen die Anforderungen und Erwartungen an jeden Einzelnen im Umgang mit Medien. Medienkompetenz fördert die Befähigung von Menschen, sich in unserer von Medien durchdrungenen Welt kompetent zu integrieren und orientieren. Dabei geht es nicht nur darum, die verschiedenen, sich immer schneller weiterentwickelnden Medienanwendungen zu kennen und technisch zu beherrschen. Angesichts der Vielzahl verfügbarer Quellen geht es vor allem auch um die Fähigkeit, gezielt Informationen aus der Daten- und Bilderflut neuer Medien herauszufiltern und diese einzuordnen. Dazu ist das Wissen über technische, historische, soziale, politische, kulturelle, ökonomische und nicht zuletzt ethische Bedingungen und Zusammenhänge gefragt.
Für die individuelle Entwicklung und Identitätsbildung sind Fähigkeiten zur interaktiven Kommunikation, zur kompetenten Mediennutzung, zur kritischen Auseinandersetzung mit Medieninhalten sowie Kenntnisse der Produktionsbedingungen notwendiges Rüstzeug. Vor diesem Hintergrund ist Medienkompetenz eine unverzichtbare Schlüsselqualifikation in der Informations- und Kommunikationsgesellschaft.

Der einzelne Nutzer gewinnt an Gewicht

Unsere bisherige Medienwelt kannte zwei Akteure: Sender und Empfänger. Durch die Digitalisierung und die zunehmende Medienkonvergenz lösen sich die bisher klaren Grenzen auf: Aus Sendern werden Empfänger (wenn etwa Zeitungen Bilder von "Leserreportern" publizieren), aus Empfängern Sender (etwa bei Youtube und MySpace). Wissen und Information werden nicht mehr von einigen wenigen nachvollziehbaren und überprüfbaren Stellen wie Verlagen, Redaktionen, Sendern verbreitet, sondern können prinzipiell von jedem individuell und ungeprüft abgesetzt werden. Die Digitalisierung ermöglicht es jedem Einzelnen einfacher und kostengünstiger als je zuvor, selbst zum Akteur und Anbieter zu werden und seine Inhalte weltweit zu transportieren (user generated content). Jeder Einzelne ist in der Lage, seine Kompetenzen, seine Erfahrungen, seine Meinungen und vieles mehr digital zu verbreiten, Teil von Meinungsvielfalt zu sein. Diese Entwicklung hat Vor- und Nachteile: Zum einen ermöglicht sie mehr Teilhabe und dadurch auch ganz neue "Werke" wie etwa Wikipedia. Zum anderen schwinden die Überprüfbarkeit und die "Objektivität" der publizierten Information. Nachrichten und Meldungen aus Blogs scheinen genau so relevant wie Meldungen aus Zeitungen - und sind es mitunter. Auch können Unternehmen durch interaktive Mediennutzung leichter erfahren, wer, wann, wo und wie, welche Medieninhalte nachfragt und daraufhin ihre potenziellen Kunden individuell bewerben. Ungefilterte Produktwerbung durch Unternehmen kann eine geballte Verbrauchermeinung entgegenwirken.
Für eine demokratische Gesellschaft gilt es also, Strukturen zu schaffen, die einerseits Teilhabe ermöglichen, andererseits aber auch vor den negativen Folgen von Teilhabe schützen. Gelingen kann dies durch die Förderung von Medienkompetenzvermittlung, die auch dazu beiträgt, die freiwillige Preisgabe persönlicher Daten in ihrer Tragweite einzuschätzen. Insbesondere ist das Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Ebenen und verschiedener Kompetenzen notwendig. Damit der Einzelne seinen neu gewonnenen Einfluss auch geltend machen kann, wird es notwendig sein, den Menschen und seine Kompetenz im Umgang mit den Medien und Plattformen stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Es ist deshalb Aufgabe sozialdemokratischer Politik, Medienkompetenz nicht nur als ein Thema der Bildungspolitik zu begreifen, sondern sie auch zum Gegenstand eines neuen, integrierten Medienrechts zu machen, das insbesondere auf Vernetzung unterschiedlicher Institutionen und Akteure setzt. Es ist notwendig, eine verbindliche Kommunikation zwischen den vielfältigen Komponenten der Medienkompetenz - Politik, Verbraucherschutz, Jugendschutz, Eltern, Bildungsinstitutionen, Bürgermedien, Medienproduzenten und Kindern und Jugendlichen - aufzubauen.
Deshalb hält die SPD die Einrichtung einer von den Landesmedienanstalten und anderen Akteuren (Inhalteanbieter, Plattformbetreiber u. a.) getragenen Stiftung Medienkompetenz für sinnvoll. Ziel dieser Stiftung muss es u. a. sein, die Verantwortung des Einzelnen für eine vielfältige Medienlandschaft zu zeigen, zu stärken und einzufordern. Gleichzeitig muss sie Vertrauen in gute Inhalte fördern und mithelfen, gemeinsame Grundwerte auch über Staatengrenzen hinweg aufzuzeigen.

Medienkompetenz ist ein zentrales Projekt des Konzeptes vom lebenslangen Lernen

Die Grundlagen für eine kompetente Mediennutzung werden schon im Kindesalter gelegt. Familien kommt bei der Vermittlung von Medienkompetenz daher eine besondere Bedeutung zu. Viele Kinder, vor allem viele Jugendliche und junge Erwachsene sind längst souveräne und kompetente Nutzer. Sie nutzen die Chancen und Möglichkeiten der Vielfalt der digitalen Welt. Sie bilden sich, sie informieren sich, sie kommunizieren, sie spielen - kurzum: Sie bewegen sich sicher in dieser Welt und haben zugleich eine Kompetenz erworben, die es ihnen auch ermöglicht, sich in unserer sich stark verändernden (Berufs-) Welt selbstbestimmt zu orientieren. Vielen Kindern und vielen Jugendlichen fehlen aber auch häufig die notwendige Distanz, Erfahrung und das Reflexionsvermögen, um Medieninhalte und deren Auswirkungen auf ihre Entwicklung ausreichend kritisch zu beurteilen. Sie stehen der Faszinationskraft der digitalen Welt oft unkritisch gegenüber, setzten sich damit den möglichen Gefahren, die in Chaträumen lauern, leichtfertiger aus, laufen Risiko, sich vor realen Problemen in virtuelle Welten zu flüchten oder den Medienkonsum zu übertreiben.
Dessen sind sich Eltern häufig nicht ausreichend bewusst. Aus Unkenntnis und Unsicherheit, Vorurteilen oder Desinteresse gegenüber Medien verlieren viele Erwachsene aus dem Auge, womit sich ihre Kinder tagtäglich beschäftigen. Mitunter sind Eltern auch einfach froh, ihre Kinder für ein paar Stunden vor dem Fernseher oder dem Computer beschäftigt zu wissen. Die erzieherischen Einflussmöglichkeiten der Eltern bei der Auswahl und im Umgang mit Medien gehen dadurch aber verloren. Sozialdemokratische Medienpolitik setzt sich deshalb dafür ein, dass Eltern über aktuelle Medienentwicklungen und die von ihnen ausgehenden Gefahren und Potenziale informiert werden, so dass sie eine Vorbildwirkung für einen verantwortungsvollen Umgang mit den Medien wahrnehmen können (Elternabende in Kindertagesstätten und Schulen etc.). Eltern sollen gemeinsam mit ihren Kindern Medienangebote gezielt entdecken und bewusst beobachten, wie ihre Kinder auf Medieninhalte reagieren. Sie sollen diese verstehen helfen und auch Grenzen setzen, um zu verhindern, dass sich ihre Kinder in der virtuellen Welt wohler fühlen als in der realen. Dadurch können am Ende auch die Erwachsenen viel mit, von und über ihre Kinder lernen. Praktische Medienkompetenzvermittlung in den Familien sowie in Kindertagesstätten und Schulen muss daher als unverzichtbarer Grundstein verstanden werden, um Kinder als "medienmündige Bürger" den Weg in die Informations- und Kommunikationsgesellschaft zu ebnen.

Medienpädagogische Bildungsinhalte und Informationsangebote stärken

Familien brauchen Unterstützung bei der Medienerziehung. Der richtige Umgang mit Medien muss in der Informations- und Kommunikationsgesellschaft als Bildungsthema erkannt und gefördert werden. Deshalb ist es notwendig, dass in Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten, Weiter-, Fort- und sonstigen Bildungsreinrichtungen sowie in der Jugendarbeit stärker als bisher auf die Vermittlung von Medienkompetenzen Wert gelegt wird. Eine verbesserte medienpädagogische Ausbildung und Qualifizierung der Erzieher, Lehrer und Dozenten ist Voraussetzung dafür. Darüber hinaus sind Internetplattformen und Veranstaltungen, die pädagogisch wertvolle Medieninhalte empfehlen, eine wichtige Orientierung für Eltern und Jugendliche. Die SPD fordert deshalb, dass es sowohl in Kindertagesstätten als auch in Schulen über Medienführerscheine altersgemäße verbindliche Medienkompetenzvermittlung geben soll. Auch Pädagogen sowie Erziehungsberechtigte müssen mehr Möglichkeiten bekommen, über Medienkompetenzführerscheine Qualifikation und Fertigkeit zu erwerben.

Zwei Seiten einer Medaille: Jugendmedienschutz und Medienkompetenz

Auch im digitalen Zeitalter müssen Kinder und Jugendliche vor entwicklungsbeeinträchtigenden Medieninhalten und vor Bedrohungssituationen, die sich auf das reale Leben auswirken, durch einen wirksamen gesetzlichen Jugendmedienschutz geschützt werden. Jugendgefährdende Medieninhalte müssen für Jugendliche verboten bleiben und Kinder und Jugendliche müssen stark gemacht werden gegenüber der Anbahnung von jugendgefährdenden Kontakten beispielsweise in Chaträumen. Das bestehende, abgestufte Jugendschutzsystem bietet die richtigen Voraussetzungen, damit unsere Kinder und Jugendliche den verantwortungsvollen Umgang mit neuen Medien lernen und erfahren können. Es differenziert nach der unterschiedlichen Medienwirkung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Der Zugang zu Medieninhalten wird durch entsprechende Altersfreigaben im Wege staatlich überwachter Selbstkontrolle geregelt. Gewaltverherrlichende und -verharmlosende Medieninhalte sind dabei strafrechtlich ebenso verboten wie indizierte entwicklungsgefährdende Angebote für Jugendliche. Medienkompetenz und gesetzlicher Jugendmedienschutz müssen wirksam ineinander greifen. Nur dann können wir unsere Kinder und Jugendliche für die digitale Medienwelt stark machen und sie nachhaltig gegenüber möglichen Gefahren durch Medien schützen.

Medienkompetenz durch Bürgermedien

Wichtige Bestandteile sozialdemokratischer Medienkompetenzpolitik sind auch in Zukunft Partizipation und Bürgermedien. Auch in der digitalen Welt werden wir über diese Plattformen Beteiligungschancen sichern. Nichtkommerzielle lokale und regionale Inhalte bedeuten ein Mehr an Vielfalt - sie tragen auf lokaler und regionaler Ebene wesentlich zum kulturellen Geschehen und zur Förderung der Kommunikation vor Ort bei und bilden das kommunalpolitische, kulturelle und sportliche Geschehen in ihrer Region ab. Bürgermedien sind nicht nur ein Ort der Vermittlung von praktischer Medienkompetenz, sondern sind zusätzlich ein Ort der Aus-, Fort- und Weiterbildung geworden. Bürgermedien sind somit auch Instrumente der politisch-demokratischen Bildung in der Mediengesellschaft und ermuntern dazu, sich ehrenamtlich und zivilgesellschaftlich zu engagieren. Der Grundgedanke der Partizipation, der allen Bürgermedien von Anfang an innewohnt, macht sie auch zu idealen Institutionen der Einübung demokratischer Spielregeln. Die Bürgermedien leisten damit einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Kultur.
Mit der Digitalisierung wird die Bedeutung der Bürgermedien und offenen Kanäle steigen. Sie spielen eine wichtige Rolle für Medienpluralismus und Bürgerpartizipation. Sie fördern die kritische Auseinandersetzung mit Themen aus dem eigenen Umfeld und bieten die Möglichkeit, durch aktive Gestaltung von Medieninhalten die Nutzung und Wirkung moderner Medien zu erlernen. Neue Übertragungswege ermöglichen es, ihre Beiträge jederzeit abzurufen. Das stärkt ihre Position in der Medienlandschaft. Bürgermedien und offene Kanäle können den Digitalisierungsprozess nutzen, um sich zu multimedialen Medienkompetenzzentren weiterzuentwickeln. Die Bürgermedien in Deutschland waren seit ihrer Gründung im Jahre 1??? einem stetigen Wandlungs- und Entwicklungsprozess unterworfen. Zuschauer wurden zu Produzenten, hier wird seit über ?? Jahren praktische Medienkompetenz vermittelt, hier werden demokratische Strukturen im lokalen und regionalen Bereich kommunikativ unterstützt, hier wurde schlicht gelernt wie Radio und Fernsehen funktionieren und wie man Radio und Fernsehen dann auch mit anderen Augen konsumiert. Bürgermedien an über ??? Standorten vermitteln Medienkompetenz, indem sie jedem die Möglichkeit geben, nach eigenen Vorstellungen Öffentlichkeit herzustellen bzw. ein konkretes Programm zu machen. Das ist ihre vornehmlichste Aufgabe und zentrale Leistung zugleich. Das breite Spektrum an kulturellen, sozialen, politischen und sportbezogenen Themen im Programmbereich und nicht zuletzt die Akzeptanz bei Produzenten und Zuschauern bzw. Hörern haben den Bürgermedien in der Medienlandschaft einen festen Platz geschaffen. Das kann nur erfolgreich fortgeführt werden, wenn die Programmqualität der Bürgermedien Mindeststandards entspricht und die Verzahnung mit medienpädagogischen Zielen und Maßnahmen, mit Aus- und Fortbildungserfordernissen und der Erfüllung des meist lokalen Programmauftrages gelingt.
Gleichzeitig stehen die Bürgermedien vor großen Herausforderungen. Die Digitalisierung und die Konvergenz der Verbreitungswege (Digitalisierung der Kabelnetze und der Endgeräte, breitbandiges Internet, DVB-T und DVB-H, DAB usw.), und die interaktiven Möglichkeiten des Web ?.? machen es erforderlich, die technischen Grundlagen der Bürgermedien zu modernisieren. Radio und Fernsehen werden zwar auch in absehbarer Zeit nach wie vor die Leitmedien in unserer Gesellschaft bleiben. Dazu werden sich neue Medien und neue Möglichkeiten komplementär entwickeln. So wird es auch in Zukunft nicht darum gehen, die existierenden Bürgermedien abzuschaffen, sondern es wird darum gehen, sie weiterzuentwickeln, wenn man den partizipativen Grundgedanken und die Vermittlung von Medienkompetenz als demokratieförderndes Potential ernst nimmt.
Die rasante Einführung breitbandiger Internet-Zugänge ermöglicht es, auch Audio- und Video-Inhalte sowohl im Streaming-Verfahren als auch auf Abruf auf dem PC und bald auch auf dem Fernseher bereit zu halten. Dadurch wird das Dilemma des Wettbewerbs mit attraktiven Programmen, unter dem Bürgermedien oftmals gelitten haben, sich deutlich mildern. Beiträge aus Bürgermedien können über den Tag und über das Lokale hinaus als Streaming-, Abruf- und Feedbackangebote so nutzbar gemacht werden, dass sie eine zusätzliche Dimension bekommen.
Der wesentliche Schwerpunkt der Arbeit der Bürgermedien bleibt aber immer der lokale, regionale Bezug, insbesondere hinsichtlich eines programmlichen Beitrages für den jeweiligen Standort.

Medienkompetenz 2.0 - jetzt die Chancen nutzen

Die SPD weiß um die Bedeutung von Medienkompetenz 2.0. Die SPD ist der politische Motor dieser Entwicklung, die neue Chancen für eine weitere Demokratisierung, für neue Formen politischer und gesellschaftlicher Teilhabe und für eine aktive Rolle der Nutzer im Markt um Meinungen bringt. Mit dem Medienführerschein für alle Kinder und Jugendliche, der Stiftung Medienkompetenz, der Stärkung des Jugendmedienschutzes, der Weiterentwicklung der Bürgermedien und weiterer Initiativen schaffen wir die Voraussetzungen, politische Teilhabe und den Zugang zu Wissen zu erweitern. ...

Quelle:

Parteitag der SPD in Hamburg, 26. bis 28. Oktober 2007, Beschlüsse http://www.spd.de/show/1751465/Beschlussbuch_Hamburg.pdf