European Digital Rights
Netzsperren - Verbrechen bestrafen, nicht verstecken (2010)

European Digital Rights, eine Vereinigung von 27 Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen aus 17 Ländern wendet sich mit diesem Positionspapier gegen das Vorhaben der EU, Filter zur Sperre von Webseiten, die Darstellungen von Kindesmissbrauch beinhalten, verpflichtend einzuführen. Sie fordert Löschen statt Sperren als einzig wirksamen Ansatz.

"Was bewirken Netzsperren?

Netzsperren bewirken, dass illegale Webseiten weiterhin online bleiben können und lediglich der Zugang ein wenig erschwert wird. Der Zugang bleibt - ungeachtet der eingesetzten Sperrtechnik - weiterhin jederzeit möglich. Die Löschung oder Entfernung einer illegalen Website bedeutet hingegen, dass diese aus dem Internet entfernt und ein Zugang somit unmöglich gemacht wird."

Wir dokumentieren hier Einleitung und Zusammenfassung des Papiers:

"Die EU berät über einen Vorschlag, demzufolge Filter zur Sperre von Webseiten, die Darstellungen von Kindesmissbrauch beinhalten, eingeführt werden sollen. European Digital Rights fordert das Parlament und den Rat auf, dieses Vorhaben neu zu überdenken. Kindesmisshandlung und ihre Darstellung im Internet sind schreckliche Vergehen von oftmals kaum vorstellbarem Ausmaß. Dagegen muss seriös und mit Maßnahmen vorgegangen werden, die auf Beweisen und Rechtmäßigkeit beruhen, nicht auf Politik und spontanen Reaktionen.

Wir dürfen es den Mitgliedsstaaten nicht ermöglichen, kosmetische Maßnahmen zu ergreifen, die sich bereits als Ersatz für angemessenes Handeln erwiesen haben: In Ländern, die bereits Netzsperren verhängen, hat sich nachweislich gezeigt, dass diese Methode als Ersatz für echtes internationales Vorgehen und nicht etwa als ergänzende Maßnahme eingesetzt wird.

Die Schaffung eines Systems zur Beschränkung des Zugangs zu Informationen birgt immense Risiken:

  • Der politische Druck auf Mitgliedsstaaten, echte und effektive internationale Maßnahmen zu ergreifen, wird geschwächt.
  • Die Glaubwürdigkeit der EU, wenn sie Beschränkungen des Informationsaustausches in repressiven Regierungen anspricht, wird untergraben.
  • Ein "Mission-Creep"-Effekt wird ausgelöst, weil – insbesondere als Reaktion auf mediale Schlagzeilen – unweigerlich der Druck wächst, Netzsperren auf immer mehr Bereiche zu übertragen.
  • Der Neutralität des Internets wird ein Ende gesetzt, wenn sich Internet Service Provider (ISPs) gezwungen sehen, in Technologien zu investieren, die auf immer tiefgreifendere Weise verschiedene Inhalte diskriminieren.

Wir können nicht einfach eine Methode für Netzsperren einführen und hoffen, dass sie sich positiv auswirkt – die Vorteile müssen den Kostenaufwand überwiegen. In der Vorarbeit der Kommission wird das Thema jedoch nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit behandelt:

  • Weshalb wurde kein Nachweis für die Behauptung vorgelegt, dass sich in jenen Ländern, die Netzsperren bereits eingeführt haben, ein spürbarer Nutzen ergeben hat?
  • Weshalb ist die Kommission nicht auf die ernsten rechtlichen Bedenken eingegangen, die durch jüngste unabhängige Untersuchungen1 aufgezeigt worden sind?
  • Weshalb hat die Kommission keine Untersuchung von Ausmaß und Ursache des Problems durchgeführt, warum rechtswidrige Webseiten online bleiben?

Das Dokument steht unter einer CC-Lizenz "Namensnennung, nicht kommerziell, Weitergabe unter gleichen Bedingungen". Das vollständige Text kann als PDF-Datei heruntergeladen werden: http://www.mister-wong.de/doc/netzsperren-verbrechen-bestrafen-nicht-verstecken_259414054/

Bericht "Internet Blocking: Balancing Cybercrime Responses in Democratic Societies": http://www.aconite.com/blocking/study"

Nachträge:

Ergänzend verweisen wir auf den differenziert argumentierenden Artikel von Holger Bleich und Axel Kossel in c't 9/09:
"Verschleierungstaktik - Die Argumente für Kinderporno-Sperren laufen ins Leere"

Der Innenausschuss des Europäischen Parlaments sprach sich am 14.02.11 "deutlich gegen eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zum Sperren von Webseiten aus. Stattdessen müssen alle Mitgliedsstaaten ihre Bemühungen zum Löschen von Webseiten, die Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern zeigen, verstärken. Sperren sind demnach zwar weiter möglich, dies aber nur, wenn Löschversuche erfolglos bleiben und in einem Rahmen, in dem zeitnah ein rechtlicher Widerspruch gegen eine Sperrung möglich ist." (Meldung des Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur, AK Zensur)

In Deutschland hat der AK Zensur am 22.02.11 beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen das "Zugangserschwerungsgesetz" eingelegt.

Im Herbst 2009 vereinbarten Union und FDP in ihrem Koalitionsvertrag, die Sperren zunächst nicht anzuwenden. Im April 2011 wurde dann beschlossen, das Gesetz endgültig aufzuheben.