Marina Weisband, 5 Thesen zur Digitalen Bildung (2019)

Im Zuge des Regionalforums zum Grundsatzprogramm der Grünen wurde ich gebeten, einige Thesen zur Bildung im 21. Jahrhundert aufzustellen.

Im Folgenden verschriftliche ich meine fünf Thesen.

These 1: Das Informationszeitalter hat begonnen.

Beim Übergang der Industriegesellschaft in die Informationsgesellschaft, der sich seit einigen Jahrzehnten vollzieht, wird die kritische Ressource – Wissen. Das bedeutet, dass nicht mehr der Besitz von Produktionsmitteln, sondern die Verarbeitung von Daten, Innovation und der Einsatz von Wissen Hauptkriterien von Macht werden.

Alle im Grundsatzprogramm formulierten Grundsätze – Würde, Demokratie, Selbstbestimmung – werden im Informationszeitalter Bildungsfragen. Die Möglichkeit der Entwicklung von Kompetenzen und Lernfähigkeit bestimmt maßgeblich über die Lebensqualität. In einer Konsumgesellschaft zu Konsument*innen erzogene Menschen befinden sich in einer Unmündigkeit, aus der sie sich nur selbst befreien können.

Die Herausforderung des Übergangs ins Informationszeitalter besteht in nichts Geringerem als in einer zweiten Welle der Aufklärung.

These 2: Digitalisierung ist der große Verstärker

Diese These ist Jöran Muuß-Merholz entlehnt, der formulierte: "Wer gern faul auf dem Sofa rumliegt, kann mit digitalen Medien besser faul auf dem Sofa herum liegen. Wer politisch aktiv ist, kann mit digitalen Medien besser politisch aktiv sein.“ Digitalisierung kann sowohl einen freien, individuelleren, kompetenzorientierten Unterricht verstärken, als auch ein Schulsystem, das stärker auf Kontrolle und Überwachung der Lernenden und Lehrenden setzt.

Damit ist der Kern der Digitalisierung nicht der Einsatz digitaler Geräte, sondern eine Gestaltung der zugrundeliegenden Kultur, die verstärkt werden soll. Digitalisierungsdebatten sind deshalb folgerichtig zuvorderst Kulturdebatten. Gerade im Kontext der Bildung muss das stärker betont werden.

These 3: Lernen muss kompetenzorientiert sein

Die Halbwertszeit von Wissen wird immer kürzer. Die heutige Jugend bereitet sich auf Berufe vor, die es noch gar nicht gibt. Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert werden. Das Ziel des Lernens kann es also nicht sein, Wissen aufzunehmen, sondern eher die Fähigkeit erwerben, neues Wissen und neue Fähigkeiten zu erlernen. Zentral sind dabei solche Fähigkeiten, zu denen Maschinen auch mit künstlicher Intelligenz nicht in der Lage sind. Beispielsweise mit anderen zu kommunizieren und zusammen zu arbeiten, kreativ Probleme zu lösen und Ziele zu formulieren und kritisch zu denken. Die Fähigkeit zur Reflexion muss ausgebildet werden und eine Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht werden. Jeder Mensch muss die Zeit, den Raum und den Anreiz haben, sich zu fragen: Wer bin ich? Was will ich? In was für einer Gesellschaft lebe ich? In was für einer Gesellschaft will ich leben? Und wie komme ich da hin?

Diese Art der Bildung ist maßgeblich Beziehungsarbeit und kann nicht durch digitale Geräte ersetzt werden, wohl aber sehr gut darin unterstützt werden. Sie ist aber vor allem Folge eines veränderten Lernverständnisses, bei dem die lernende Person im Mittelpunkt steht und sich selbstbestimmt Ziele setzt, die sie in Zusammenarbeit mit anderen verfolgt. Ständige Lernstandserhebungen, bei denen die Motivation des Lernens externalisiert wird und in denen vor allem geübt wird, Faktenwissen für eine kurze Zeit auswendig zu lernen und in einer Prüfung wieder zu geben, sind hierzu kontraproduktiv.

These 4: Lernen hört nicht mehr auf.

Die Vorstellung, dass man als junger Mensch ausgebildet wird, dann fertig gelernt hat und in der Lage ist, einen Beruf auszuüben, gehört ins Industriezeitalter. Keine Erwerbstätigkeit wird in naher Zukunft an lebenslangem Lernen vorbeiführen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass einige Menschen es sich leisten können, ihre Erwerbstätigkeit für eine Weile zu pausieren und sich weiterzubilden, während andere Menschen sich das nicht erlauben können. Dadurch wächst der Graben zwischen denen, deren Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt potentiell obsolet werden und die in immer prekärerer Arbeit beschäftigt sind und solchen, die ohnehin privilegierte Beschäftigungsverhältnisse hatten, die sie weiter ausbauen können. Diese Dynamik muss abgefangen werden. Aus- und Weiterbildung muss zu jeder Lebenszeit unentgeltlich möglich sein. Bildungseinheiten können nicht mehr getrennt vom Berufsalltag gedacht werden, sondern sind Bestandteil dessen. Hier sind die Unternehmen gefragt, aber auch der Staat. Bildungsinstitutionen müssen sich öffnen und fließende Übergänge ermöglichen. Besonders die Volkshochschulen müssen eine sehr viel zentralere Rolle einnehmen, als sie es bisher getan haben.

These 5: Institutionen müssen sich wandeln.

Anknüpfend an die letzte These stellt die Digitalisierung vor allem eine Herausforderung an Organisationsentwicklung. Das beginnt mit der einzelnen Schule, wo es nicht damit getan ist, Arbeitsblätter jetzt als PDF auf einem Tablet zu lesen. Hier müssen das Konzept von Klassenräumen, die Rolle von Lehrer*innen und Schüler*innen und die Fächertrennung gründlich überdacht werden. Doch auch die übergeordneten Institutionen im Bildungsbereich müssen sich wandeln. Heute sind Zuständigkeiten kleinteilig verteilt, ohne dass die einzelnen Ministerien, Gremien, Hochschulen, Berufsschulen etc. sich in ausreichendem Maße austauschen. Digitalisierung ist praktisch immer grenzübergreifend. Die Institutionen, wie sie zurzeit sind, sind strukturell nicht in der Lage, die Digitalisierung zu gestalten. Eine zukunftsfähige Entwicklung muss auf Vernetzung und Austausch zwischen den verschiedenen Bereichen setzen, um flüssigere Bildungslaufbahnen zu ermöglichen.

Während Vernetzung in größeren Kontexten ermöglicht werden muss, also bundesweit und international, müssen einzelne Einrichtungen mehr Autonomie bekommen, um erfolgreiche Modelle gestalten zu können und Best Practices über die Vernetzung an andere Einrichtungen verbreiten zu können. Die Autonomie der Einrichtung ist Voraussetzung für die Autonomie der Lehrenden, die wiederum Vorbilder sind für Lernende, die immerhin Selbstbestimmung und Mündigkeit lernen sollen. Der Institutionelle Rahmen ist hier von den Bildungsinhalten nicht zu trennen.

Das Bildungssystem, und insbesondere das System der Lehrer*innen-Bildung, kann es sich in der heutigen Welt nicht leisten, Jahrzehnte zu brauchen, um sich an neue Gegebenheiten anzupassen.

Fazit

Wir arbeiten an einer zweiten Welle der Aufklärung, was nicht nur unsere Institutionen, sondern auch unsere Rollenbilder und Kultur massiv in Frage stellen wird. Das wird nicht einfach. Die Alternative ist allerdings ein System von Unfreiheit und Überwachung. Bildung ist nicht mehr ein Bereich von vielen, um den man sich politisch so kümmern könnte. Sie durchzieht alles und ist die entscheidende Weiche auf dem Weg in die Zukunft.

Quelle

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