Gesellschaft für Informatik e.V., 3. Dagstuhl-Erklärung zur Informatischen Bildung in der Schule (2015)

Bereits seit nahezu 30 Jahren beschäftigt sich die Gesellschaft für Informatik e.V. (GI) mit dem Thema "Informatik in der Schule“. Im Jahr 1976 wurden erste Empfehlungen zur Integration des Informatikunterrichtes in die Schule publiziert. Die GI erklärte hier:

" ... es gilt die Vorstellung vom Rechner als ´Elektronengehirn’ und die von der ´Knopfdruckautomatik’ abzubauen. Der Schulabgänger soll der Datenverarbeitung nicht hilflos wie einer höheren Gewalt gegenüber stehen, sondern sie rational in sein Umweltverständnis einordnen können.“

Seitdem hat die GI in mehreren Memoranden, Pressemitteilungen und zwei weiteren Dagstuhl-Erklärungen auf die Dringlichkeit hingewiesen, Informatik in den Schulunterricht zu integrieren. Im Jahr 1992 erklärte die GI in der 1. Dagstuhl-Erklärung:

"Gerade das Verstehen der Informatik-Prinzipien und das Begreifen der Vorgänge, welche in Softwaresystemen ablaufen, versetzen die Jugendlichen in die Lage, ihre Vernunft kritisch zu gebrauchen und maschinell verarbeitete Informationen zu analysieren und zu bewerten; solche Fähigkeiten sind zur geistigen Beherrschung und zur Bewältigung einer komplexen und zunehmend vernetzten Welt notwendig. Nicht zuletzt führt die Einsicht in automatisierbare Vorgänge zu einem besseren Verständnis des unverwechselbar Menschlichen und ermöglicht den Jugendlichen einen verantwortlichen Umgang mit der modernen Technik.“

Obwohl der Einfluss der Schlüsseldisziplin Informatik auf die vernetzte, digitale Gesellschaft allgegenwärtig sichtbar ist, hat das Unterrichtsfach in der Allgemeinbildung in Schulen im Vergleich zu anderen Unterrichtsfächern noch immer untergeordnete Bedeutung. Im Dezember 2014 befasste sich deshalb erneut ein GI-Expertengremium bestehend aus Informatikern in Hochschule und Wirtschaft, Informatikdidaktikern, -lehrkräften und weiteren Beteiligten im Schloss Dagstuhl in Wadern mit Strategien und Lösungen zur Stärkung der Schulinformatik im deutschen Schulsystem. In der "3. Dagstuhl-Erklärung zur Informatischen Bildung in der Schule 2015“ wird zum Ausdruck gebracht, in welcher Weise das deutsche Bildungssystem und das gesellschaftliche Bewusstsein weiterentwickelt werden müssen, damit zukünftige Generationen – auch im internationalen Vergleich – bestmöglich auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet werden.

Bonn, im August 2015

Informatikunterricht gehört in die Schule!

Wir leben in einer digitalen Gesellschaft, in der unsere Arbeits- und Lebenswelten in einer noch nie dagewesenen Form von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) geprägt werden. Informatik ist der Schlüssel zu dieser digitalen Welt und daher unverzichtbarer Teil der Allgemeinbildung. Sie ist ein wichtiger Baustein für die Teilhabe und Gestaltung unserer digitalen Gesellschaft und trägt zur Identitätsbildung bei. Mit Blick auf Entwicklungen wie Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge wird sich der Einfluss der Informatik sowohl auf den privaten als auch auf den beruflichen Alltag in der Zukunft rasant vergrößern.

Die Informatik liefert einen wesentlichen Beitrag, die Genese und Funktion von IKT- Systemen zu verstehen, zu beurteilen und an deren Gestaltung mitzuwirken. Informatik bedeutet Informationsverarbeitung automatisieren, Wissen generieren, Funktionsweisen und Wirkprinzipien verstehen, problemlösen, programmieren, konstruieren, gestalten und die Grenzen von IKT-Systemen zu erkennen. Das Beherrschen von Programmiersprachen, welche in der Informatik zur Kommunikation zwischen Mensch und Maschine verwendet werden, steigert nicht nur das Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Computern, sondern erfordert auch Sorgfalt, Planung und logisches Denken. Nur eine grundständige, flächendeckende Informatikbildung erlaubt es allen Schülerinnen und Schülern, die Möglichkeiten der digitalen Lebenswelt auszuschöpfen.

Informatikunterricht leistet einen Beitrag zum Erlernen von Anwendungsprogrammen und der kritischen Auseinandersetzung mit digitalen Medien, darf jedoch nicht mit einer Bedienschulung verwechselt werden. Das selbständige Erschließen auch neuer IKT-Systeme erfordert das Verständnis der grundlegenden Arbeitsweise und Konzepte dieser Systeme. Durch die Vermittlung dieser Grundlagen unterstützt Informatikunterricht ein lebenslanges Lernen in der digitalen Gesellschaft.

Die Bedeutung der Informatik wird sich in der Zukunft mit Sicherheit verstärken. Deutschland darf nicht den Anschluss an andere europäische Länder, bei denen der Informatikunterricht zum Teil schon fest in den Lehrplänen verankert ist, verlieren. Wir sehen es daher als notwendig an, Informatik als Pflichtfach in der Schule zu etablieren, um unsere Kinder "fit für die Zukunft“ zu machen und somit der Rolle der allgemeinbildenden Schulen gerecht zu werden. Wir erneuern hiermit zwei frühere Dagstuhl-Erklärungen (1, 2) und fordern alle beteiligten Akteure in Bund und Ländern auf, gemeinsam und noch in diesem Jahr die folgenden vier Forderungen anzustoßen:

1) Wir fordern die Einführung eines Pflichtfachs Informatik in der Sekundarstufe I in allen Bundesländern.

Informatische Bildung trägt zur Entmystifizierung komplexer Informations- und Kommunikationssysteme bei. Sie hilft auf der einen Seite die Grenzen und Möglichkeiten solcher Systeme zu erkennen und zu verstehen; auf der anderen Seite ermöglicht informatische Bildung deren kritische Beurteilung, problemadäquate Verwendung sowie Anpassung. Damit liefert die Informatik einen entscheidenden Beitrag, um die Auswirkungen von IKT-Systemen auf das private und berufliche Leben abschätzen zu können, unbegründete Ängste abzubauen, selbstbewusst mit digitalen Medien und IKT-Systemen umzugehen und die digitale Gesellschaft aktiv mitzugestalten.

Erst ein Grundlagenfach Informatik in allen Schularten wird die dazu nötigen Voraussetzungen schaffen. Das Fach Informatik ist vielseitig, nützlich, spannend und herausfordernd.

2) Wir fordern die Gleichstellung der Informatik mit anderen Prüfungsfächern in der Sekundarstufe II.

Viele der akademischen Berufe, auf die die Sekundarstufe II vorbereiten soll, verwenden Informationstechnologie oder informationsverarbeitende Methoden zur Unterstützung der Erkenntnisgewinnung. Die steigende Relevanz der Informatik zeigt sich u.a. auch durch die Ausbildung von "Bindestrichinformatiken” wie der Bioinformatik, Medizininformatik oder Geoinformatik. Informatik ist die Querschnittswissenschaft für die systematisierte, computergestützte Informationsverarbeitung und sie erfordert im 21. Jahrhundert einen entsprechenden Stand in der Schule. Die Wahl eines Informatikkurses in der Sekundarstufe II muss genauso eingeordnet werden wie die Wahl einer klassischen Naturwissenschaft.

3) Wir fordern die flächendeckende Ausbildung von qualifizierten Informatiklehrkräften. Das schließt die Schaffung von qualitativ hochwertigen Lehrer(weiter)bildungsstrukturen mit ein.

Guter Informatikunterricht setzt gut ausgebildete Lehrer voraus. Wie für alle Schulfächer ist auch die Informatiklehrkräfteausbildung langfristig auf ein grundständiges Studium angewiesen. Da Informatik in allen Lebensbereichen auftritt, ist es für die Vielseitigkeit des Faches wichtig, dass es im Studium und im Referendariat mit allen anderen Fächern kombiniert werden kann.

Die Einführung des Pflichtfaches muss mit einer intensiven und breit angelegten Fort- und Weiterbildungsmaßnahme begleitet werden (wie dies in einigen Bundesländern bereits erfolgreich war). Parallel dazu muss das Studienangebot für Informatik auf Lehramt für alle Schulformen weiter ausgebaut und an Forschungseinheiten zur Fachdidaktik der Informatik angebunden werden. Die Weiterbildungsmaßnahmen sollen eine vorübergehende Maßnahme darstellen, müssen jedoch den gleichen Qualitätsstandards für fachliche und fachdidaktische Ausbildung wie das grundständige Studium genügen. Ebenso sind für die Einbindung von Quer- bzw. Seiteneinsteigern die gleichen Qualitätsstandards erforderlich. Geeignete Maßnahmen müssen sicherstellen, dass trotz Lehrermangel im Fach Informatik genügend Referendare ausgebildet werden können.

4) Wir fordern insbesondere die gesellschaftlichen Akteure auf, sich weiterhin zur Bedeutung der Informatik für die Gesellschaft und für die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen klar zu bekennen.

Die Defizite der informatischen Bildung in Deutschlands Schulen müssen fester Bestandteil der Debatten und Vorhaben in politischen Arbeitsgruppen (u.a. auf dem IT-Gipfel und in der Digitalen Agenda) werden, da die Grundlagenbildung in der Schule auch einen wichtigen Beitrag liefert, die Bundesrepublik Deutschland als IT-Standort zu stärken. Wie in anderen Fächern, z.B. der Mathematik, sind und bleiben auch außerschulische Initiativen wie bspw. Wettbewerbe, Schülerlabore oder Informatikkurse wichtig. Die bestehenden Initiativen müssen gestärkt und ausgebaut werden, damit sie ihren Beitrag zu informatischer Bildung leisten können.

Informatische Bildung ist für alle Schülerinnen und Schüler wichtig und nicht nur für Spezialisten. Sie kann nicht "nebenbei“ erworben werden. Ebenso wie etwa die Naturwissenschaften einen Zugang zur naturgegebenen Realität schaffen, schafft die informatische Bildung einen Zugang zu der von Menschen geschaffenen digitalen Realität, indem es deren informatische Konstruktionsprinzipien offen legt. Wir regen eine Kampagne an, die das Bild von Informatikerinnen und Informatikern zeitgemäß, umfassend und vielseitig darstellt und die von allen relevanten Akteuren (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) gemeinsam betrieben wird.

1. Buse, D. et al (1992) Dagstuhler Empfehlung zur Aufnahme des Faches Informatik in den Pflichtbereich der Sekundarstufe II, Dagstuhl. http://www.informatikdidaktik.de/HyFISCH/Informieren/politik/DagstuhlerEmpfehlung1992.htm 2. Brinda, T. et al. (2004) Zweite Dagstuhler Empfehlung zur Aufnahme des Fachs Informatik in den Pflichtbereich der Sekundarstufe I, Dagstuhl. http://fa-ibs.gi.de/fileadmin/gliederungen/fb-iad/fa-ibs/Empfehlungen/dagstuhl2004.pdf

Quelle

Kurzkommentar

Professionspolitische Argumentation, die die seit Jahren (auch in der GI) geführte Diskussion um heute notwendige interdisziplinäre Zugänge ausblendet (vgl. z.B. schon “Informatische Bildung und Medienerziehung - Empfehlung der Gesellschaft für Informatik e.V.“ (1999) http://fa-ibs.gi.de/fileadmin/gliederungen/fb-iad/fa-ibs/Empfehlungen/InfBildungMedien.pdf und das Themenheft 4 “Informationstechnische Bildung und Medienerziehung” der Zeitschrift MedienPädagogik (2001) http://www.medienpaed.com/de/Themenhefte/4/ )