Matthias Wörther - In der Schule der Medien (1995)
Medien im Kontext von Lebensgeschichte

Schulzeit ist auch Medienzeit

Bildungsinstitutionen wehren die Medien eher ab. Ihr Einfluß wird vorwiegend negativ eingeschätzt, vor allem auch, weil man den Bildungskanon, die Sprachfähigkeit und Wertorientierungen überhaupt durch sie gefährdet glaubt. Der Essay "In der Schule der Medien - Medien im Kontext von Lebensgeschichte" vertritt eine Gegenposition. Medien sind ein neuer Lern- und Erfahrungsraum, der u.a. der Schule zunehmend Konkurrenz macht.

1. Der Aufschreibengel - Charakteristik einer Option

"Der Plattenspieler spielt nicht nur ab, er nimmt auch auf..." überschreibt Klaus Theweleit einen Abschnitt im ersten Band von "Buch der Könige" und führt dann aus: "Auf manchen Mingus-Platten, bei Coltrane oder Billie Holiday, in Sun Ra's 'Heliocentric Worlds', in einigen Klavierkonzerten Mozarts, in vielen Rockstücken, auf Dylan-Platten, auf vielen andern, sind bestimmte Gefühle, die ich beim Hören hatte, derart genau gespeichert, daß ich nicht zufrieden bin, das einfach 'Erinnerungen' zu nennen. Auch nicht ein Hilfsmittel zur Wiederbelebung. Die Platten haben etwas aufgezeichnet, während sie liefen; nicht nur etwas abgespielt." (1,377)

Was er hier von Schallplatten sagt, gilt für Medien allgemein.

Medien sind nicht nur Wiedergabegeräte oder Reproduktionstechniken, sondern funktionieren in Lebensgeschichten als individuell genutzte Aufzeichnungsgeräte, als Erinnerungsspeicher und Veränderungen hervorrufende Bezugspunkte: Sie verkörpern Sinn und Bedeutung und sind nicht nur Instrumente einer wie immer gearteten Abbildung von "objektiver" Wirklichkeit.

Aus der Auffassung von Medien als Aufzeichnungsgeräten (auch ein Bild Van Goghs kann in diesem Sinne etwas für mich "aufzeichnen") folgt ein Zugang zu den Medien, der deren Bedeutung in individuellen Sinnentwürfen in den Vordergrund rückt (ein "Nutzenansatz") und nicht deren oft positivistisch-mechanistisch verstandene "Wirkung" untersuchen will. Wenn in einem "Nutzenansatz" von "Wirkung" die Rede ist, dann ist das ein hermeneutischer, nicht aber ein empirischer Begriff. Man mag messen können, daß ein Horrorfilm bei so und so viel Prozent seiner Besucher den Blutdruck um so und so viel Einheiten erhöht hat, (also eine "Wirkung" hervorrief), Angstgefühle um so und so viel Einheiten verstärkte usw., aber von seiner Bedeutung verstanden hat man damit noch nichts.

Klaus Theweleit hat diesen Unterschied in der Sehweise schön illustriert, indem er zwei Plattenlabel miteinander kontrastiert, das allgemein bekannte von EMI Records, der Hund vor dem Trichter, "His Master's Voice", und das kaum bekannte eines "Aufschreibengels" von Emile Berliner: "Recording Angels' Mysteries": "Wahrscheinlich", so schreibt er, "ist der Hund (= man selbst als Objekt der Medien) die angenehmere Vorstellung gegenüber jener, nach der die Medien damit beschäftigt sind, Geschichte (auch die eigene) aufzuzeichnen. In 'His Master's Voice' sind sie reine Unterhaltungs- bzw. (im Ernstfall) Befehlszentralen." (2y, 756).

Folgt man dem Modell "His Master's Voice" und betrachtet die Medien als Befehlszentralen, die in erster Linie durch Vortäuschung von Realität und die Manipulation von Bedürfnissen (negative) Wirkungen hervorrufen (der Hund glaubt, es sei wirklich sein Herr, der ihn ruft), muß man sie als überwiegend "gefährlich" einschätzen und eine wie immer geartete (Medien)Bewahrpädagogik entwickeln.

Meine Option gilt dem Aufschreibengel, der die Geheimnisse der Engel und der Menschen aufzeichnet. Daß die Medien auch Risiken mit sich bringen, sei damit in keiner Weise bestritten, aber eine Akzentverschiebung auf den Reichtum der Medien für die Menschen und ihre Lebensprojekte kann den (allenthalben ziemlich verstellten) Blick öffnen für die andere, nicht manipulative Seite der unendlichen Vielfalt an Bildern, Klängen, Geschichten, Techniken, Texten, Modellen und Metaphern, die wir medial hervorbringen und auf die wir uns real beziehen.

Unter einer "Option" verstehe ich eine begründete Entscheidung für eine bestimmte Seh- und Handlungsweise auf ein Problem hin (eine verantwortete Einseitigkeit), also eine Handlungsperspektive, die Prioriäten setzt, Gewichtungen vornimmt und ein pragmatisches Interesse hat. Es gibt auch andere Optionen. Bekanntlich stoßen sich die Dinge im Raum). Im Blick auf die Entwicklungen in der Mediengesellschaft scheint es mir in erster Linie notwendig, die Jugendlichen und alle übrigen "Medienkonsumenten" (uns nämlich) nicht länger nur als hilflose und passive Opfer der Medien zu betrachten, sondern als Menschen, die in eigener Verantwortung Sinn, Orientierung, Handlungskonzepte und Problemlösungen suchen und finden.

Einer Medienpädagogik muß deshalb daran gelegen sein, "kritischen Umgang" mit den Medien nicht ex negativo als Medienabstinenz, Larmoyanz ("Wenn es das Fernsehen nicht gäbe..."), Kulturpessimismus ("Wir amüsieren uns zu Tode"), Empirismus ("47% aller Zwölfjährigen haben schon einmal dies oder das...") oder Hochkultursnobismus ("Also, das Buch ist viel besser als der Film...") zu konzipieren. Ihr Ziel sollte sein, Medien als das zu begreifen, was sie im Ursprung sind: Instrumente der sozialen Kommunikation. Junge Menschen (und nicht nur sie) gehen erwartungsvoll und neugierig auf die Welt zu, um sie sich zu erschließen. Sie auf Gefahren aufmerksam zu machen ist notwendig, darf aber nicht die generelle Leitlinie erzieherischen Handelns sein. Ziel der Schule ist es, Zugänge zu möglichst vielen und möglichst weiten Erfahrungsräumen zu schaffen. Und die Medien sind heute ein solcher Erfahrungsraum, in den hinein sich unvermeidlich schon Kleinkinder aufmachen (und aufmachen müssen), um etwas über sich und die Welt zu erfahren. Wie jede Pädagogik kann auch die Medienpädagogik nicht mehr leisten, als Menschen kompetent zu begleiten, und sie sollte das im Vertrauen auf deren Fähigkeiten tun, mit ihrem Leben und dem, was ihnen dort begegnet, klarzukommen: "'Und dann hütest du dich davor, in den Fluß zu plumpsen', sagte Mattis. 'Und was tu' ich, wenn ich in den Fluß plumpse?', fragte Ronja. 'Schwimmst'.

2. In den Hallen des Gedächtnisses - Zur Konstruktion von Lebensgeschichte

Im berühmten zehnten Buch seiner "Bekenntnisse" reflektiert Augustinus auf die Funktion des Gedächtnisses: "Dort begegne ich auch mir selbst und erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden. Dort ist alles, wessen ich mich entsinne, sei es von mir erlebt oder daß ich es von anderen erfahren habe. Aus derselben Masse hervor verknüpfe ich mir selber auch immer neue Bilder erlebter oder dem fremden Erlebnis - weil es meinem eigenen entsprach - geglaubter Dinge mit vergangenen zu einem Gefüge und erwäge auf Grund dessen auch schon künftiges Tun, wie es ausgehen mag, was sich hoffen läßt und wiederum ist dies alles wie gegenwärtig vor meinem Geiste." (Bekenntnisse, 178).

Was Augustinus umschreibt, ist die Konstruktion von Lebensgeschichte und eigener Identität. Er spricht von primären und sekundären Wirklichkeiten, und davon, wie er sie zu dem Sinngebilde verwebt, von dem her er sich versteht. Auf all das, was ihm begegnet ist, bezieht er sich, um sich und seine Welt zu begreifen, um Probleme zu lösen, um sich Ziele zu setzen und um Handlungskonzepte zu entwerfen.

Was uns von ihm unterscheidet, ist der Verdacht, "dem fremden Erlebnis geglaubte Dinge", sprich "Medienerlebnisse" oder "sekundäre Wirklichkeiten" hätten so überhand genommen, daß ihre zunehmende Nutzung mit bedenklichem Realitätsverlust einherginge. Aber was ist Realität? Ein Skizze dessen, wie die "Konstruktion von Wirklichkeit" (Berger/Luckmann) vor sich geht (es gibt andere Entwürfe, denn die Reflexion auf den Prozeß des Entwerfens ist selbst wieder ein Entwurf), wird für den Fortgang der Überlegungen hilfreich sein.

a) Erfahrung als gedeutetes Erlebnis

Jeder befindet sich im Strom von Erlebnissen, die ihm mehr oder weniger bewußt werden, denen er mehr oder weniger Aufmerksamkeit zuwendet, die schon im nächsten Augenblick Vergangenheit sind, die weiter absinken, die man vergißt oder an die man sich als Schlüsselerlebnisse immer wieder erinnert. Zu Erfahrungen werden sie, wenn man sich ihnen als "bedeutsamen Erlebnissen" zuwendet und sie unter bestimmte Begriffe faßt (d.h. eine bestimmte Theorie der Bedeutung eines Erlebnisses für "richtig" oder "wahr" hält). Man hat eine Erfahrung gemacht, wenn man das Erlebnis des Beinahe-Unfalls als Warnung begreift, wenn man seine zukünftigen Handlungen daran orientiert, wenn man ein Erlebnis als Chance, als Erkenntnis, als Glück oder als Unglück interpretiert. Die Konzepte, in die Menschen ihre Erlebnisse einordnen, sind von ungeheurer Vielfalt, unterschiedlichster Gewichtigkeit (Von: "Ampeln werden immer dann rot, wenn ich komme" bis zu "Ich glaube an Gott"), stehen immer in der Abhängigkeit von ihren Kenntnissen und Fähigkeiten, der Zeit, in der sie leben, und davon, was ihnen in ihrem Leben begegnet oder nicht begegnet usw. Solche Konzepte stammen aus der Familientradition, aus der Religion, der Philosophie, aus Büchern, von Freunden, sind Faustregeln, Theorien, Dogmen, Mythen, Klischees, selbstgestrickte Synkretismen, Metaphern usw.

Auch Medien werden zu Erlebnissen. Die Konzepte, die sie verkörpen, stammen von anderen, aus anderen Welten, aber ich beziehe mich auf sie. In diesem Bezug werden Medienerlebnisse für mich zu bestimmten Erfahrungen und zu einer bestimmten Art von Erfahrung, indem ich sie für mich einordne und begreife. Man mag sie mit einigem Recht "sekundär" nennen, wenn man sie von naturhaften Gegebenheiten abgrenzen will, in ihrer Wirkung auf mich können sie aber "primäre" Wirklichkeiten sein: reale Erfahrungen. Ist, wenn ich in der S-Bahn ein Buch lese, mein Leseerlebnis "sekundärer" Natur (es kann ein Buch sein, auf das ich mich über Jahre immer wieder beziehe), und sind die Dutzende kaum voneinander unterschiedenen S-Bahnfahrten, die ich für seine Lektüre benötigte, die "primäre Wirklichkeit"? Erfüllt den Fußballfan, der beim Siegestreffer seines Vereins vom Sofa vor seinem Fernseher aufspringt, eine "sekundäre" Freude?

b) Vom absoluten Wert der Situation

In der Gegenwart grassiert der Platonismus in dem Sinne, daß beispielsweise die Computerindustrie den Eindruck erweckt, die vollständige Abbildung der Welt und der Zugriff auf das gesamte Wissen der Menschheit sei allein eine Frage des Speicherplatzes. (Das Reich der Ideen als Supercomputer). Platonisch daran ist auch die implizit mitgelieferte Vorstellung, daß es dann nichts mehr zu entscheiden gebe, weil man alles wissen könne und "vollständige Information" mit "richtiger Entscheidung" identisch sei. Doch selbst wenn die vollständige "Digitalisierung" der Welt möglich wäre (im übrigen eine völlig abwegige Idee), würde sich unsere Lage nicht prinzipiell ändern, weil niemand, als Mensch, je dieses umfassende Wissen sich erschließen könnte.

Jeder befindet sich (und wird sich immer befinden) in einer Situation (genauer: in ineinander verschränkten Situationen), an der er weithin nichts ändern kann: Er ist sein Körper, er hat seine Eltern, er lebt im 20. Jahrhundert, in Deutschland oder in Australien, er wächst in dieser oder jener Sprache auf usw. Diese Vorgaben sind absolut. Zweifellos bieten sich in unserer Gesellschaft vielen (aber keinesfalls allen) eine Unmenge von Alternativen, die die Absolutheit zumindest bestimmter Situationen relativieren: ich kann diesen oder jenen Beruf wählen, ich muß nicht heiraten, wen mir die Familie zudiktiert, ich kann in Köln oder München wohnen usw. Die Medien sind ein wichtiger Teil dieser "Erlebnisgesellschaft". Auch sie bieten eine schier unbegrenzte freie Wahl an Themen, Darstellungsformen und Erlebniswerten. Aber: Die Zeit läuft, meine Zeit läuft, jede Minute, die verstreicht, wird absolut, meine Entscheidungen werden absolut, sie sind manchmal revidierbar, was nichts an der Absolutheit der zuerst getroffenen falschen Entscheidung ändert, oft aber nicht, was die Absolutheit von Entscheidungen immer wieder vor Augen führt. Auch in einer Welt, die alles wüßte, bliebe mir das Lernen nicht erspart, und was ich aktuell in meiner je eigenen Situation (in meinem durch Festplatten nicht erweiterbaren Kopf) wissen könnte, wäre vielleicht besser strukturiertes Wissen, würde mir aber den Zwang, Entscheidungen mit Konsequenzen für mich und mein Leben zu treffen, nicht abnehmen.

Anders gesagt und im Blick auf die Medien: Das Relative (die Situation) ist im Blick auf den einzelnen (mich) absolut. Worauf ich mich beziehe, aus welchen Gründen auch immer, prägt mich. Daß ich von Mitte der siebziger Jahre an ein Fan von Bob Dylan war, ist kollektiv betrachtet weder originell noch ganz zufällig, aber nicht zwingend, in meiner Lebensgeschichte jedoch ist es ein absolutes Datum, sowohl was das Erlebnis meiner Jugend als auch was seine Interpretation als eine bestimmte Erfahrung von Jugend betrifft. Ich werde nie mit neunzehn Jahren ein Fan von Howard Carpendale gewesen sein. Ich werde meinen Töchtern (vermutlich vergeblich) zu erklären versuchen, warum "Like a Rolling Stone" "mein" Lied gewesen ist. Ich könnte keine Autobiographie schreiben, in der Bob Dylan nicht vorkäme. In diesem Sinn haben "situative" und "sekundäre" Medienerlebnisse "primäre" Qualitäten.

c) Von eigensinnigen Tatsachen

Der Einwand liegt nahe, daß mir, wenn Medienerlebnisse solche primären Qualitäten bekommen können, auch ein absolut negatives, mich aus der Bahn werfendes, mir massiv schadendes Erlebnis begegnen könnte. Wenn ich in meine Biographie schaue, kann ich solche Erlebnisse nicht finden. Von Bonanza bis Horrorfilm, von Hitchcock bis Thomas Gottschalk, von Karl May bis Thomas Mann, von Bruckner bis zu den Kinks (live, zwei Tage Ohrenpfeifen) habe ich schon einiges an Medienwirkung unbeschadet (Selbsteinschätzung) überstanden. Könnte ich einfach nur Glück gehabt haben? Ich glaube nicht.

Wenn es so ist, daß Erlebnisse nur zu Erfahrungen werden, wenn man sich in einem bestimmten Sinn auf sie bezieht, dann heißt das auch, daß das, was dem einen wichtig erscheint, für den anderen völlig belanglos sein kann. Jeder hat seine Raster, mit denen er die Medienangebote selektiert, und diese Raster sind in der eigenen Lebensgeschichte und Identität verwurzelt. Es ist die Eigensinnigkeit der Tatsachen (ein Ausdruck von A.N.Whitehead), die mitbestimmt, worauf ich mich beziehe und worauf nicht. So ist in der Pubertät die Sexualität eine solche eigensinnige Tatsache, die bewirkt, daß man eine Zeitlang noch aus den entlegensten Quellen alles aufsaugt, was mit dieser Thematik zu tun hat. Man hat eine selektive Brille auf, bis die "eigensinnige Tatsache" Sexualität sinnvoll in die eigene Biographie integriert ist.

Es gibt andere "eigensinnige Tatsachen", die sehr viel spezieller sind, und für einen Menschen ein von anderen kaum nachvollziehbares oder verstehbares Wahrnehmungs- und Suchraster bilden. Bildlich gesprochen könnte man sagen, daß jeder Mensch durch seine Biographie selbst eine hochkomplexe "eigensinnige Tatsache" ist und damit Fragen und Probleme verkörpert, an denen nur er arbeitet, und daß jeder in Welten lebt, die ebenfalls wieder "eigensinnige Tatsachen" sind.

Auf die Medien gewendet bedeutet das, daß auch die heutige Flut von Angeboten sich für jeden durch seine Eigensinnigkeit und die Eigensinnigkeit der Welt, in der er lebt, in solche Bereiche gliedert, auf die er sich beziehen kann, und in sehr viel größere, die für ihn völlig belanglos sind.

Die Wirkungsforschung bestätigt das zum Beispiel hinsichtlich der Wirkung medialer Gewalt: Gewalttätige Filme verstärken die Gewaltbereitschaft dort, wo Gewalt auch im Alltag ein Mittel der Konfliktlösung ist (also eine eigensinnige Tatsache, die sich nicht ohne weiteres aus der Welt schaffen läßt). Damit soll nicht gesagt sein, daß ein Medienerlebnis ein Kind, einen Jugendlichen, einen Erwachsenen in einer bestimmten Situation nicht überfordern könnte, aber das ist die Ausnahme, nicht die Regel.

Im skizzierten Sinn begegnet man im Raum der Medien (ganz im Unterschied zur "wirklichen" Wirklichkeit) meist nur den Dingen, denen man begegnen will, und findet nur das, was man sucht. Die Medienpädagogik von Wirkungs- und Nutzungs-Extremen her zu konzipieren, rückt unsere (Medien)Realität in ein schiefes Licht. Die Medien verhelfen in unvergleichlich größerem Maß zur Orientierung in der Realität (dem Raum der eigensinnigen Tatsachen), als daß sie desorientierend wirken. (Frech gefragt: Wer sonst liefert denn noch in einer sich komplizierenden Welt brauchbare Orientierungen?)

d) Auf den Schultern von Riesen

Wir alle stehen auf den Schultern von Riesen, d.h. leben von dem, was vor uns (von Geistesriesen und anderen) gedacht, gesagt, konzipiert, erfahren und gespeichert wurde. Die rasante Entwicklung der Industriegesellschaften erweckt nun den Eindruck, wir befänden uns in einer völlig neuen Welt und Wirklichkeit. In mancher Hinsicht ist das richtig, in anderer wiederum nicht.

Richtig ist es insofern, als uns Medien zur Verfügung stehen, die es so noch nie gab. Falsch ist es, wenn man glaubt, die technische Form, die Transferierbarkeit und Speicherbarkeit von Informationen aller Art (der "Fortschritt") habe in lebensphilosophischer und ästhetischer Hinsicht entscheidend Neues gebracht. Zwar wächst die Menge der zur Verfügung stehenden (Sach)Informationen mit unglaublicher Schnelligkeit, nicht jedoch verbessert sich in auch nur annähernd vergleichbarer Weise unsere Fähigkeit, uns Wissen anzueignen, ebensowenig wie die Art und Weise, in der wir (sprachlich, ästhetisch, visuell, begrifflich) Wirklichkeit für uns verstehbar machen.

Von daher bleiben auch die Produkte der modernsten Medien vertraut: Sie erzählen mit neuen (technischen) Mitteln die alten Geschichten. Was nicht negativ gemeint ist: Es sind Geschichten über uns. Wie wir leben, wie wir leben wollen, wie wir leben sollten. Kein noch so modernes Medium, in dem es nicht über kurz oder lang die pornographische Schmuddelecke gäbe, kein noch so modernes Medium, das auf den (metaphorisch zu verstehenden) Herz-Schmerz-Reim verzichten würde. Auch ästhetisch betrachtet, bleibt im Grunde alles beim alten. Kein Fernsehspiel, kein Spielfilm, kein Buch, kein Hörspiel, dessen sinnstiftende Strukturen (Motive, Symbole, Plot usw.) nicht in ästhetischen Traditionen stünden. Kein rhetorisches Mittel, kein Gemeinplatz, keine Argumentationsstruktur, die nicht auch vergangenen Zeiten in dieser oder jener Variante schon zur Verfügung gestanden hätte.

Zugegeben, das ist pauschal gesagt. Aber es bleibt richtig, daß wir (und damit auch die Medien) von dem Sinn-, Symbol und Zeichenpotential leben (es nutzen, erweitern, umdeuten), das über Jahrhunderte angehäuft wurde. Ebenso bleibt richtig, daß zentrale menschliche Problemstellungen (sorry, aber so ist es: Das Leben, die Liebe, der Tod) vergleichbar geblieben sind. Deshalb mag die Menge und Gleichzeitigkeit der Medien erschrecken, nicht jedoch, womit sie sich beschäftigen und auf welche Weise. Von daher sind viele der Aufgeregtheiten, was in den Medien alles zu sehen und zu hören sei, doch eher überzogen. Noch das (geschmacklose) "Reality TV" reproduziert nur technisch, was eine gängige Verhaltensweise ist. Wo etwas los ist, laufen die Leute zusammen.

Zum Beleg dafür, daß man vielleicht etwas gelassener sein darf, stelle ich mich meinerseits auf einen Riesen, der Goethe heißt, sich mit der bei Medienkritikern beliebtesten Gruppe, den Kindern ("mir macht es ja nichts, aber.."), beschäftigte und am 17. März 1830 zu Eckermann gesagt hat: "Es müßte schlimm zugehen, wenn ein Buch unmoralischer wirken sollte als das Leben selber, das täglich der skandalösen Szenen im Überfluß, wo nicht vor unseren Augen, doch vor unseren Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buches oder Theaterstückes keineswegs so ängstlich zu sein. Das tägliche Leben ist, wie gesagt, lehrreicher als das wirksamste Buch."

3. Welt - Medien - Träume. Im Reich der Relationen

Was sind Medien, was leisten sie? Kirchliche Dokumente bezeichnen sie als "Instrumente der sozialen Kommunikation". Damit ist umschrieben, daß die wesentliche Aufgabe der Medien das Herstellen von Relationen ist, von Beziehungen zwischen Menschen, Ideen, Bildern, Informationen usw. Möchte man die Medien begreifen, muß man sich von einer technisch orientierten Betrachtungsweise lösen, die in den Bildern von den "Informationskanälen", der "Informationsübertragung", von "Codierung" und "Decodierung" oder im Modell von "Sender" und "Empfänger" gerne aus dem Blick verliert, daß Informationen nicht "an sich" existieren, sondern erst durch bestimmte Interessen überhaupt entstehen und immer auch nur mit einem bestimmten Interesse wahrgenommen werden. Ich möchte deshalb die Medien unter dem Aspekt ihrer sinnstiftenden Kraft als ein Reich von Relationen darstellen. Vier Merkmale dieser "relationalen" Welt will ich besonders hervorheben.

a) Medien bilden Schnittstellen

Jeder findet sich in einer Welt (besser: in wenigstens einer der vielen Welten) vor und muß sich nicht nur, sondern will sich in der Regel auch in ihr orientieren. Diese Welt ist in vielen Aspekten "naturhaft", auch wenn sie gesellschaftlich, juristisch, kulturell, religiös oder wie auch immer konstruiert ist, d.h. der einzelne hat nur minimale Möglichkeiten, in ihr Änderungen herbeizuführen. Sie ist mir weitgehend vorgegeben. Ich muß mich ihrer erwehren und sie erdulden, ich kann sie auf der anderen Seite für mich nutzen und erschließen. In diesem Prozeß bilden Medien (technisch wie inhaltlich verstanden) zentrale Schnittstellen zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft (ihren Traditionen, ihrem Wissenstand, ihren Regeln, ihren Werten), zwischen den Fragen an das Leben und den "Sinnspeichern" Kultur, Tradition, Wissenschaft usw., zwischen meiner Erfahrung und den Erfahrungen der anderen, zwischen meiner Sprache und den Sprachen der anderen. In der Mediengesellschaft hat jeder die Möglichkeit, sich an eine Vielzahl medialer Schnittstellen anzuschließen. Mit "Schnittstelle" ist gemeint, daß Medien Verbindungselemente und Übergänge zwischen den unterschiedlichsten Welten sind. Zeitung, Fernsehen, Radio sind Schnittstellen in die Welt der Informationen. Der CD-Spieler ist die Schnittstelle in das Reich der Musik. Das Telefon ist die Schnittstelle zum privaten Beziehungsnetz und zu Auskünften aller Art. Der Computer ist die Schnittstelle zu simulierten Wirklichkeiten. Das Buch ist die Schnittstelle zu Lyrik und Romankunst usw. An Schnittstellen erfolgt Datentransfer. Aber das, was man an den Schnittstellen bekommt, ist mehr als bloße Information. Sie sind entscheidende Bestandteile unseres "Beziehungs"-Alltags und der Konstruktion von Identität als eines Geflechts von Relationen. Beispiel Telefon. Das Telefon ist ein Medium, das sich ungemein schnell und flächendeckend verbreitet hat. Im Unterschied zum Fernsehen wurde diese Technik nie wirklich problematisiert, vermutlich, weil das Telefongespräch doch stark den Charakter eines natürlichen Gesprächs behält, obwohl man den Partner oder die Partnerin nicht sieht und er Tausende von Kilometern entfernt sein kann. Die technische Vermittlung wird schlichtweg ignoriert. Trotzdem hat die zwischenmenschliche Kommunikation durch die Schnittstelle Telefon eine andere Dimension bekommen. Das Telefonnetz (in jüngster Zeit mit ganz neuen "features" als "Internet") zieht sich als virtuelles Beziehungsgeflecht über Länder und Kontinente und verkörpert das Prinzip der Nähe im Zeitalter der Mobilität. Das Telefon läßt Entfernungen verschwinden und ist eine der Ursachen für die zunehmende Beschleunigung der Zeit: Der Bote mit der schlechten Nachricht nähert sich nicht langsam vom Horizont her, sondern es ist nur ein kurzes Klingeln, und die Nachricht schlägt ein wie ein Blitz, sobald der Hörer abgehoben ist. (Aber auch die erfreulichen Nachrichten erreichen mich schnell). Im allgemeinen gilt, daß ich mich an mediale Schnittstellen anschließen kann, aber es nicht muß. Andererseits ist es aber auch so, daß durch die Existenz dieser Schnittstellen ein sozialer Druck entsteht. Will man Zeitgenosse sein und nicht außen vor bleiben, dann führt kein Weg an den modernen Kommunikationstechniken vorbei. Wer sich nicht anschließt, bleibt ohne Beziehung zur Wirklichkeit. (Zur Wirklichkeit, nicht bloß zur "medialen" Wirklichkeit).

b) Medien sind offene Texte

"There's more to the picture than meets the eye/Ein Bild enthält mehr als man wahrnimmt" heißt es in einem Song von Neil Young. Und das gilt nicht nur für Bilder, sondern für jedes Medium. Medien speichern mehr, als ein einzelner oder eine bestimmte Zeit ihnen entnehmen kann. Sie sind offene Texte, Strukturen mit vielen Anschlußstellen, sie enthalten einen Überschuß an Sinn, auch dann, wenn sie mir in einem bestimmten Licht als trivial erscheinen. "Die sog. 'Vielseitigkeit' oder 'Unerschöpflichkeit' der schönen Gebilde:", schreibt Theweleit, "haben sie viel davon, begegnen sie einem mit der berühmten 'neuen Seite', die schöne Dinge einem zeigen nach Perioden der eigenen Veränderung: es war schon da, in dieser Musik, in diesem Bild, in diesem Gedicht, was erst jetzt in dir ist; es hat die Differenz gespeichert zwischen deinen verschiedenen Zuständen; vielleicht hat es dich, aus diesem Überfluß, für die geschehene Veränderung erst programmiert." (1, 379) Das ist im Blick auf die Kunst (die "wertvollen" oder "wertvolleren" Medien gesagt), aber es gilt allgemein. Der Sinn von Medien ist nicht auszuschöpfen, weil sie in immer neuen Horizonten stehen und in diesen Horizonten immer neue Relationen zu ihnen hergestellt werden. Wer auf welche Weise und zu welchem Zweck auf das Anknüpfungspotential von Texten, Liedern, Bildern, Filmen usw. zurückgreift ("Medien liest"), ist von einem Bündel objektiver wie subjektiver Parameter bestimmt, schematisch gesagt: Von der Qualität des Materials und der Lebenssituation des Rezipienten. Es mag sein, daß solche Relationen sehr kurzfristig sind, andere Medienbeziehungen wiederum halten ein Leben lang, manche durch Generationen, andere gehen verloren und werden nach Jahrzehnten neu entdeckt, wieder andere bleiben formal, "Nicht-Beziehungen": Musik verschließt sich dem Verständnis, ein Buch wird nach ein paar Seiten weggelegt. Die relationale Welt der Medien ist auch deshalb nicht auszuschöpfen, weil die Medien untereinander und ohne die Absicht irgend eines Autors in Beziehung zueinander treten. Eco nennt das den "intertextuellen Dialogismus". Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichsten medialen Sinngebilde erzeugt ein Gewebe, das aus der Nähe wie ein Chaos aussieht und es sicher oft auch ist, aus der Ferne aber so etwas wie eine Signatur des Zeitalters abgibt. Dieses Gewebe ist interpretierbar und stiftet Zusammenhänge, wo vorher keine waren. Es stiftet diese Zusammenhänge "unbewußt". Deren kreative Produktivität erweist sich in den Köpfen der Mediennutzer. Die Welt der Medien ist eine Welt des Überflusses und der Redundanzen, der Variationen und Innovationen: es ist ein reichhaltiges System, das voller Widersprüche ist. Diese Reichhaltigkeit kann auch eine Überforderung sein, aber besser eine Überforderung durch Reichhaltigkeit, denn eine durch Mangel an Schnittstellen erzwungene enge Welt ohne Alternativen oder mit einem durch wen auch immer kontrollierten und zensierten Angebot an Anknüpfungspunkten.

c) Medien verkörpern Metaphern der Wirklichkeit

Von Medien, vor allem aber von der Photographie, dem Fernsehen und dem Film wird gerne angenommen, daß sie "Wirklichkeit" abbilden oder sie abbilden sollten. Viel Kritik an den Medien ist Kritik daran, daß sie "die Wirklichkeit" nicht angemessen wiedergeben. Mit diesem Ansatz gerät man jedoch in eine Sackgasse, denn es gibt kein Medium, das die Wirklichkeit abbildet und noch die realistischste Wiedergabe eines Phänomens ist keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern ein (technisch, sprachlich, künstlerisch) vermittelter Entwurf von ihr. Welche Wirklichkeit gibt zum Beispiel ein Schwarz-Weiß-Photo und welche ein Farbfoto vom selben Motiv wieder? Was bedeutet es, daß, je nach Belichtung und verwendetem Farbfilm, die Farbschattierungen des Motivs ganz unterschiedlich ausfallen? Bildet meine Erinnerung an die "richtige" Farbe des Motivs, die ich habe, wenn ich das Foto betrachte, die "richtige" Farbe ab? Medien leisten auch in ihren nüchternsten und dokumentarischen Formen nicht eine "objektive" Abbildung von Wirklichkeit (selbst wenn dieser Anspruch erhoben wird), sondern sie stiften Sinn, der ohne das Medium nicht existiert. Sie entwerfen und konstruieren symbolische Wirklichkeiten. Medien sind Metaphern der Wirklichkeit. Sie stellen faktisch-empirische (das Telefonnetz, die Kabelkommunikation) und sinnstiftend-interpretierende (Geschichten der Liebe, Geschichten des Hasses) Ordnungen, Zusammenhänge und Verbindungen zwischen Menschen, Bildern, Worten und Sachverhalten her. Sie behaupten auf die unterschiedlichste Weise, daß dieses oder jenes der Fall sei. Sie setzen in Beziehung. Als Metaphern entwerfen sie Perspektiven auf das Leben, die Welt, auf Tatsachen, sie stellen "Sinnbilder" her. Der Horrorfilm ist keine realistische Abbildung von Gewalt, sondern eine ihrer Metaphern, ein "Sinnbild" des Schreckens in der Welt. Das vermeintliche Kontinuum der Wirklichkeit erweist sich als ein Kosmos von unterschiedl ichsten Sinnzugängen: Die Gewalt des Actionfilms ist nicht die Gewalt der Nachrichtensendung. Sie haben miteinander zu tun, aber nicht (in aller Regel) in einem kausalen Sinn, sondern auf einer Metaebene: Die Nachrichtensendung begreift die Gewalt als Tatsache, aber versteht sie nicht. Der Actionfilm versteht die Lust an ihr, weicht aber ihrer menschenverachtenden Realität aus. Die im Raum der Medien gegebenen Sinnzugriffe auf die Welt erzeugen allerdings nicht nur Ordnungen, sondern gleichzeitig Kontraste, Differenzen, Interferenzen zwischen unterschiedlichen, ähnlichen, sich widersprechenden, konträren und konkurrierenden Ordnungen. Diese Kontraste sind ein kreatives Chaos, in dem die Funken der sich stoßenden Widersprüche neue Metaphern zeugen und damit neuen Sinn. Es scheint mir deshalb erkenntnisträchtiger, Medien nicht von einer wie immer gedachten Abbildungsfunktion her zu beschreiben, sondern sie als Metaphern von Wirklichkeit zu begreifen. Die Metapher vergleicht Unterschiedliches, um über die Gemeinsamkeit im Unterschiedlichen eine Erkenntnis oder Einsicht zu erzeugen. Ein Fernsehbericht über ein Flugzeugunglück ist deshalb nicht interessant als Abbildung dieses Flugzeugunglücks, sondern als eine filmische Metapher, die uns mit einer uns fernen Realität sinnstiftend in Beziehung setzt. Im Medium ist der Bezug auf Wirklichkeit die eine Seite der Metapher, die Ausdrucksmittel des Mediums sind die andere. Im Kontrast der beiden Seiten konstituieren sich Informationsgehalt und Sinn eines Mediums.

d) Medien schaffen Hyperrealitäten

Wir leben in einer Welt der Synkretismen und Eklektizismen, in einer großen Melange von Themen, Bildern, Problemen, in einem Neben- und Gegeneinander verschiedener Kulturen, in einem Supermarkt von Sinnangeboten, in einem beliebigen Zusammenhang des Unzusammenhängenden. Es ist ein Irrtum zu meinen, es gäbe "DIE REALITÄT". Für junge Menschen, (nicht nur, aber vor allem für sie), gilt es, in diesen fragmentierten und diskontinuierlichen Welten, Systemen und Subsystemen Zusammenhänge zu erkennen und Zusammenhänge herzustellen, um sich als von der Beliebigkeit der Realitäten abgegrenzt zu erfahren. Die Suche nach Identität und Zusammenhang ist auch die Suche nach einem sinnhaften Kontinuum der Erfahrungswelt, einer "Hyperrealität", die die Elemente des nichtssagenden Alltags verbindet und überhöht. Ein Sonntag in einer Reihenhaussiedlung oder einem Wohnblock ist nicht nur ästhetisch eine Erfahrung von Ödnis und Leere. Acht Stunden auf der Autobahn sind eine Nicht-Erfahrung. Das angestrebte Naturerlebnis in den Bergen wird durch die Allgegenwart des Mülls in der Landschaft konterkariert. Waren es früher soziale Zusammenhänge, lokale, nationale, religiöse Identifikationsangebote, die Kontinuität garantierten, sind heute vor allem Medien die Garanten einer sinnhaften, kontinuierlichen "Hyperrealität". Medien sind nicht nur Wege in die Realität, sondern genauso Wege aus der Realität (aus welcher?) oder besser: in andere Realitäten. Beispiel Fernsehen: Was macht die Faszination des Fernsehens aus? Es ist dasjenige Medium, das aus der Disparatheit der Welt eine sich als Programmfluß ausdrückende Kontinuität herstellt, die niemals mehr abzureißen scheint. Nicht nur alle Probleme der Welt sind im Fluß von Bild und Ton aufgehoben, sondern auch ich selbst bin es. Es gibt nichts, was nicht in das einheitliche Format der Fernsehnormen und Bildschirmrechtecke passen würde, und damit als begreifbar und einer Ordnung zugänglich erschiene. Was in der "wirklichen Wirklichkeit" nichts miteinander zu tun hat, steht plötzlich in einer formalen oder gar inhaltlichen Verbindung. Wenigstens das Fernsehen, so muß man sagen, stellt ein Zeit-, Raum- und Sinn-Kontinuum her und erfüllt so "hyperreal", was die Realität weder gesellschaftlich noch individuell mehr einlöst und auch nicht mehr einlösen kann (falls sie es je getan hat). Realität und Hyperrealität sind nicht zu trennen, die "Tagesschau" ist kein Bild der Realität sondern der hyperreale Traum von einer nachvollziehbaren Ordnung der Geschehnisse in der Welt. Man träumt ihn, um in der "realen" Welt leben zu können. Das Problem mit den Medien besteht also nicht nur darin, daß sie immer schon Konstruktionen sind, sondern daß sie als solche Realitäts und Hyperrealitätscharakter bekommen: Der Mediennutzer vergißt ihre Fiktionalität. Aber es geht nicht darum, aufklärerisch diesem Erlebnis von Fiktionalität eine wirklichere Wirklichkeit gegenüberzustellen. Die Erfahrung des Mediums als Medium ist selbst wieder die Erfahrung einer Wirklichkeit, d.h. der Fernsehzuschauer erlebt sich als wirklicher, in seiner eigenen Realität angesiedelter Fernsehzuschauer. Man mag zwar das, was das Fernsehen zeigt, als sekundäre Wirklichkeit bezeichnen, aber der Prozeß des Wahrnehmens, Erlebens und Verstehens beispielsweise einer Fernsehsendung ist eine Erfahrung von eigener Wirklichkeit und deshalb auch keine "sekundäre" Erfahrung. Das gilt analog für das Umherwandern im Cyberspace, von dem derzeit viel die Rede ist. Allerdings sind Medienerfahrungen Erfahrungen anderer Art als die gemeinhin der "wirklichen Wirklichkeit" zugeordneten Alltagserfahrungen. Medien schaffen "hyperreale" Erfahrungsräume, Realitäten also, die die Alltagsrealität des gesunden Menschenverstandes, der pragmatischen Orientierungen auf das Notwendige und der Allgemeinplätze auf komplexere Erfahrungen hin übersteigen.

4. Die Lesbarkeit der Welt - Ein Streifzug durch die Bibliothek von Babel

Jorge Luis Borges träumt in der Erzählung "Die Bibliothek von Babel" von einer Bibliothek, die alles umfaßt, was sich irgendwie ausdrücken läßt, in sämtlichen Sprachen, die die Autobiographien der Erzengel enthält und die wahrheitsgetreue Darstellung des eigenen Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpretation jeden Buches in allen Büchern und die verlorenen Bücher des Tacitus.

Ein Traum, der den Zukunftsvisionen der Computerindustrie gleicht. Aber mit jedem Leser, der die Bibliothek betritt, wäre im Kern eine neue, andere Bibliothek von Babel angelegt: Diejenige, die entsteht, wenn sich der eintretende Leser lesend und verstehend auf die Bibliothek bezieht. Die Medien sind eine solche Bibliothek, die Welt überhaupt kann als eine solche Bibliothek betrachtet werden. Und mit einem zweiten Leser der Bibliothek (der Medien, der Welt) sind wir bereits im Raum der Kontroversen: Meine Bilder sind nicht deine Bilder, meine Deutungen sind nicht deine Deutungen, meine Lesart ist nicht deine Lesart. Und Deutungen sind Wirklichkeiten, es gibt keine Wirklichkeit jenseits von ihnen. (Es gibt die Bäume, die Steine, den Wind, Dinge aller Art, aber für mich gibt es sie nur als Deutephänomene meiner Sinnesorgane, meines Gehirns und meiner theoretischen Konzepte). Auseinandersetzungen um Deutungen sind also immer auch Auseinandersetzungen um die "Wirklichkeit".

Welche Wirklichkeit haben Medien? Welche Wirklichkeiten schaffen sie? Die folgenden Beispiele diskutieren "Lesarten" von Medien. Für welche man sich entscheidet, hat Einfluß auf Denk- und Handlungskonzepte. Meine Option wird deutlich. Es gibt andere. Die Dinge (und ihre Deutungen) stoßen sich im Raum.

a) Medienkritik I: Standpunkte der Hochkultur
1. Die Pornographie der schönen Stellen

In der Süddeutschen Zeitung vom 19.4.95 veröffentlichte der Musikwissenschaftler Michael Schmidt einen Artikel mit dem Titel "Die Pornographie der schönen Stellen. Vom Verschwinden der klassischen Musik in den Medien". Er wendet sich darin gegen die ausschnittweise Verwendung klassischer Musik, wie sie für die derzeit sehr beliebten Zusammenstellungen berühmter, schöner, eingängiger oder in Filmen verwendeter "schöner Stellen" auf Sampler-CDs charakteristisch ist, und führt den Hans Castorp des Zauberbergs, der in der nächtlichen Stille des Sanatoriums seinem Grammophon lauschte, als Prototypen des Konsumenten schöner, aber aus ihrem Zusammenhang gerissener Stellen an: "Die Schallplattenindustrie setzt heutzutage verstärkt mit ihren 'Compilations' genannten Zusammenstellungen 'schöner Stellen' auf solch onanistischen Hörkonsum. So wie der menschliche Körper in der Pornographie auf bestimmte, ständig wiederkehrende Teile reduziert erscheint, so werden Musikwerke auf die immer gleichen Stellen hin ausgeschlachtet und diese dann unter läppischen Motti wie 'Musik zum Träumen' zusammengestellt." Schmidt trägt folgende Argumente vor:

  • Kunst wird verramscht und geht im bloßen Konsum unter
  • Die Aura der Musik geht durch die technische Aufzeichnung verloren. Musik verliert die Einmaligkeit der jeweiligen Aufführung
  • Klassische Musik wird nur noch beiläufig, nebenher gehört, wodurch sie ihren Ereignis- und Erlebnischarakter verliert.

Offenbar hängt Schmidt dem Modell "His Master's Voice" an. Wir ließen uns, so scheint er zu meinen, durch die Tonaufzeichnung täuschen, würden mit einem Surrogat vorlieb nehmen und die technische Reproduktion eines Ereignisses dem wirklichen Ereignis, die Musikkonserve der eigentlichen Musik vorziehen.

Für Schmidt ist die klassische Musik eine Schnittstelle ins Reich der wahren Kunst, aber nur dann, wenn sie live im Konzertsaal stattfindet, wenn sie integral, d.h. nicht in Ausschnitten rezipiert wird und wenn man sie auch versteht: ihre Strukturen, die Feinheiten der Komposition. Nur dann ist ein wirkliches und eigentliches Kunsterlebnis möglich. Ohne bestreiten zu wollen, daß Richtiges in Schmidts Kritik steckt, denn eine Aufführung ist etwas anderes als eine CD, und es ist etwas anderes, ob man nur Ausschnitte hört oder ein Musikstück in seiner Gesamtheit wahrnimmt, und noch einmal etwas anderes, ob man kompositorische Feinheiten realisieren kann oder nicht, möchte ich seine Medienkritik ihrerseits wieder kritisieren, weil sie elitäre Züge trägt. Das Elitäre an ihr ist die Enge und Ausschließlichkeit, mit der er einen bestimmten Umgang mit klassischer Musik absolut setzt. Meine ersten Erlebnisse mit klassischer Musik waren jedenfalls Radioerlebnisse. Ich kam vom Radio zum Konzertsaal, nicht umgekehrt.

Die "Schnittstelle Klassische Musik" auf Tonträger kann nämlich der Zugang zu ganz anderen Erlebnissen sein, als sie Schmidt im Auge hat. Das hängt damit zusammen, daß Platten eben nicht nur Aufgezeichnetes wiedergeben, sondern für den Hörer auch Erfahrungen und Erlebnisse aufzeichnen (Modell "Recording Angels' Mysteries"). Die Medien täuschen die Menschen nicht, sondern sie haben etwas Göttliches: Gegen die fliehende Zeit zeichnen sie auf und halten fest, was vergänglich ist. Menschen, die von klassischer Musik nur "schöne Stellen" anhören, und da ihre Lieblingsstücke haben, nutzen diese Musik anders, als es etwa der Musikliebhaber macht, der im Konzertsaal den Feinheiten der Interpretation nachspürt. Für sie zeichnet die Musik Geheimnisse der Engel auf, persönliche Erlebnisse, Gefühle und Situationen, denen sie beim Anhören der "schönen Stellen" wieder begegnen können. Für sie hat diese Kunst einen direkten Lebensbezug, die schönen Stellen verweisen auf intensive und wichtige Lebensmomente und bewahren sie.

Was Hans Castorp da also nächtens macht, wenn er den Raum mit "näselndem Gebrüll" erfüllt, ist aus meiner Sicht nicht herablassend zu kritisieren, sondern unter dem richtigen Blickwinkel zu betrachten. Dann nämlich wird der Wert dieses Umgangs mit Medien sichtbar.

Wem also, könnte die Frage an Herrn Schmidt lauten, schadet dieser angeblich "pornographische" Umgang mit der klassischen Musik? Muß man nicht auch die fragmentarische Nutzung gelten lassen? Sollen nur die Spezialisten, die Eingeweihten Zugang zur Musik haben, weil nur sie sie "richtig" verstehen?

Eine positive Seite der Medien ist ihre Fähigkeit, Kunst zu popularisieren. Sie ermöglichen, daß man (viele, jeder) sich auf Kunst überhaupt beziehen kann, weil sie sie zugänglich machen, und sie eröffnen ein kreatives Potential: Wer Kunst wie und in welchen Zusammenhängen nutzt, kann und soll niemandem vorgeschrieben werden, und was dabei herauskommt, darf man weder vorschreiben noch ist es vorauszusagen: Es könnte ein schönes Erlebnis sein.

2. Hannahs Datenschatten

Das Foto zeigt meine inzwischen vierjährige Tochter Hannah (die zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes noch nicht "Hannah" war) im Alter von 8 oder 9 Wochen. Ultraschallbilder sind inzwischen eine ganz selbstverständliche Sache und man bewahrt sich die Abzüge davon auf. Über die Entstehung dieser Bilder und ihre metaphorische Bedeutung macht man sich in der Regel keine Gedanken.

Die Abbildung des Kindes im Uterus ist eines der Beispiele, die Barbara Duden in ihrem Buch "Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben" zum Anlaß nimmt, Medien zu kritisieren, in diesem Fall diejenigen Medien (Ultraschall und Photographie), die einen Prozeß im Inneren der Frau abbilden, der bis in die jüngste Gegenwart hinein visuell nicht zugänglich und vorstellbar war. Solche Bilder, so sagt sie, sind "digitale Schatten" (163).

Macht man sich bewußt, wie das Bild entstanden ist, ist der Ausdruck digitaler Schatten sehr treffend. Denn das Ultraschallbild ist eben keine direkt über Sinne vermittelte Wahrnehmung des Embryo, sondern die graphische Umsetzung von Meßdaten. Punkt für Punkt wird Zahlenwerten ein Helligkeitswert zugeordnet, also ein Meßergebnis visualisiert, nicht anders, wie eine Balkengraphik statistische Daten sichtbar macht. Im Prinzip unterscheidet sich die Herstellung des Ultraschallbildes auch nicht von der Herstellung der Bilder weit entfernter Planeten, die in der Detailliertheit und Farbigkeit, wie wir sie kennen, noch kein menschliches Auge gesehen hat und vielleicht auch nie sehen wird.

Die Kritik, die Barbara Duden an diesem Medium formuliert, ist eine Kritik, die im Prinzip mit der Unterscheidung von primärer und sekundärer Wirklichkeit arbeitet, einer Argumentationsfigur, die immer wieder auf die Medien angewandt wird. Sie fragt nach der Wirklichkeit, die ein solches Ultraschallbild oder auch die bekannten Photos des Empfängnisvorgangs und der frühen Entwicklung eines Embryos von Lennart Nilsson darstellen und sagt: "Es ist nichts als eine Kollage von Zehntausenden von submikroskopischen Meßresultaten, die beim Zuschauer Eindruck schinden. Damit will ich nicht sagen, daß es illegitim wäre, das Unsichtbare darstellen zu wollen... Unsinnig scheint es mir aber, der ausgestellten Kollage von Meßdaten sinnliche Wirklichkeit zu verleihen. Wer die Darstellung für ein Abbild der Sache hält und dieser Sache dann "Wert" beimißt, der ist mit seinen Sinnen dem Photographen auf den Leim gegangen." (31) Eine sekundäre Wirklichkeit wird ihrer Meinung nach zu einer primären, vermeintlich auf gleicher Ebene mit anderen Sinneswahrnehmungen stehenden Realität hypostasiert: "Ich will zeigen, wie der Blastozyt in der uterinen Schleimhaut medienvermittelt als Emblem im Laienbewußtsein eingebettet wird und dieses Phantom sich dann leibhaftig in der Frau einnistet." (92), d.h. vermittelt durch die Visualisierung von Meßdaten stellt sich die Frau "ihr Baby", "ein Leben" vor, ohne daß dem bereits eine primäre Eigenwahrnehmung entsprechen würde.

Es entsteht also eine "Hyperrealität". Die Frau liest den "Text des Bildes" bereits als ihre persönliche Wirklichkeit, ein Zugang zu ihrer Schwangerschaft, der früher nicht nur unmöglich, sondern unvorstellbar war. Über viele Jahrhunderte war eine Schwangerschaft für eine Frau erst dann wirklich geworden, wenn die Frau die erste Kindsregung verspürte: "Ohne ihr eigenes Zeugnis war keine Frau 'schwanger'" (118). Duden kritisiert in der Folge, daß die ursprüngliche, gesamtheitliche Wahrnehmung der Frau durch eine vorgezogene, nur optische, quasi phantomhafte und illusionäre Wahrnehmung ersetzt wird.

Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Veränderungen in der gesellschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung, die durch diese Techniken stattgefunden haben. Der Uterus der schwangeren Frau ist "öffentlich" geworden. Mit dieser Öffentlichkeit, in der die Abbildungen von Embryos zu "Leben überhaupt" überhöht werden, entstehen soziale, medizinische und politische Zugriffe auf die schwangere Frau, die sie in vielfacher Hinsicht zum Objekt machen und ihr das Kind bereits im Mutterleib zu entziehen beginnen:

  • Es entsteht ein sozialer Druck auf die schwangere Frau. Sie habe sich, als Trägerin werdenden Lebens, so zu verhalten, daß das Wohl des entstehenden Lebens nicht gefährdet wird
  • Es ensteht ein medizinischer Druck auf die Frau, insofern sie in ein umfassendes Diagnose und Vorsorgesystem eingespannt wird
  • Es entsteht ein politischer Druck auf sie, insofern beispielsweise in der Abtreibungsdebatte immer auch deutlich war, daß der Staat massiv an "werdendem Leben" und einem reglementierenden Umgang mit ihm interessiert ist

Der medienkritische Ansatz von Barbara Duden ist deshalb so interessant, weil er Medien in ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung von Wirklichkeit untersucht: "Ein ganz anderer Zugang zur Bewertung der Technik und ihrer Geschichte fragt nicht danach, was Technik tut, sondern nach dem, was eine neue Technik sagt, welche Vorstellungsformen, Wahrnehmungsstile und Befindlichkeiten sie durch ihre Existenz und Anwendung vermittelt." (98) Es geht ihr um die metaphorische Dimension der Medien.

Eine Kritik an ihrer Kritik muß an ihrem Begriff von "sekundären" Wirklichkeiten ansetzen. Sie sagt: "Wir leben in einer Welt hinter Glas, in der nur wirklich ist, was einem gezeigt wird." (116). Gezeigt wird einem zum Beispiel das Ultraschallbild eines Kindes, das ihrer Meinung nach als Bild zu einem Phantom der Wahrnehmung wird.

Ich kann durchaus nachvollziehen, daß der digitale Schatten meines Kindes eine abbildungstechnisch abgeleitete, sekundäre Wirklichkeit ist. Ich sehe auch die Gefahr, die darin liegt, einen solchen digitalen Schatten zu hypostasieren. Auf der anderen Seite ist ein Großteil der Informationen, mit denen wir umgehen (und auf die wir uns verlassen), sekundärer Natur und sie müssen zwangsläufig sekundärer Natur sein, denn wollte man auf der direkten sinnlichen Überprüfbarkeit von Informationen bestehen, würde der eigene Handlungsradius ungemein klein werden. Das Sekundäre dieser Informationen heißt jedoch nicht, daß sie keine relevanten Tatsachen erfassen würden. Ich bin sicher, daß diesem digitalen Schatten eine Wirklichkeit entspricht, die mein Handeln bestimmen kann und muß. Das Ultraschallbild ist ein medialer Entwurf einer Wirklichkeit, aber es ist keine mediale Fiktion. Der Fixpunkt des bildlichen Entwurfs, das worauf das Ultraschallbild sich bezieht, ist nicht nur in der Wirklichkeit "Bildwelt", sondern in der Wirklichkeit der realen Welt vorhanden. Als Vater und als Mutter handle ich mit Recht auf die reale Tatsache hin, die im Ultraschallbild eine metaphorische Darstellung findet (und beginne zu überlegen, wo das Kinderbett hingestellt werden soll).

So ist also der Überhang an sekundären Wirklichkeiten, der durch die Medien aller Art entsteht, auf der einen Seite durchaus eine Entfernung von einer direkten, sinnlichen Wahrnehmung von Wirklichkeiten. Die Gefahren, die darin liegen, sind deutlich: Bilder für die Wirklichkeit zu halten, Reales und Fiktionales zu vermengen, fingierte Tatsachen für bare Münze zu nehmen, in abgeleitete Welten zu flüchten. Andererseits ist der Umgang mit sekundären Wirklichkeiten prinzipiell nicht zu umgehen: Jede Sprache ist eine sekundäre Wirklichkeit, insofern sie die Wirklichkeit nicht verdoppelt und objektiv abbildet, sondern einen bestimmten Zugriff auf sie formuliert.

Es kann also bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den Medien nicht darum gehen, angeblich primäre, authentische Wirklichkeiten gegen die angeblich minderwertigen sekundären Wirklichkeiten auszuspielen, sondern es muß reflektiert werden, daß und wie sich unsere persönlichen, kollektiven und gesellschaftlichen Wirklichkeiten aus der sekundären Bezugnahme auf primäre Gegebenheiten entwickeln, welche Wirklichkeiten das sind und wie man sich verantwortlich in ihnen verhält. Es gibt für uns keine Wirklichkeit an sich, die unabhängig von wahrnehmenden Subjekten wäre.

Primäre und sekundäre Wirklichkeit bilden in der Wahrnehmung wie in der Reflexion auf sie eine unaufhebbare Einheit. Anders gesagt: Das Ultraschallbild ist noch eine sehr vage, sekundäre Metapher meines Kindes, aber sie erschließt dennoch die primäre Wirklichkeit der Existenz dieses Wesens.

3. Der Ausverkauf der Symbole

Die Bilder stammen aus einem dreiminütigen Werbefilm der Firma C & A (Young Collection), der sowohl im Kino als auch im Fernsehen lief. Untermalt von der Musik einer schwarzen Sängerin sieht man eine Lokomotive, die durch eine weite Landschaft fährt und auf ihrer Fahrt immer wieder Menschen mitnimmt. Dann rücken die Berge näher, der Zug kommt in eine zunehmend enger werdende Schlucht, die auf einen Tunneleingang zuläuft. Der Eingang ist verbarrikadiert.

Die Lokomotive durchbricht die Barrikade, rast ins Dunkel und durchstößt am anderen Ende des Tunnels eine Mauer. Über ein großes Viadukt, das sich ins Meer erstreckt und dort abbricht, fährt sie weiter, hebt ab, in die Leere und in die Sonne hinein. Erst am Schluß wird erkenntlich, daß es sich um Werbung handelt: C & A, Young Collection. Der Werbespot ist ein Kompendium bedeutsamer Symbolik. Es sind eine Unmenge von sinnstiftenden und sinntragenden Elementen versammelt, sowohl auf der Bild- wie auf der Erzählebene, die in literarischen, religiösen oder kirchlichen Zusammenhängen in vergleichbarer Weise verwendet werden:

ein Zug, der durch die Zeit fährt
Er symbolisiert eine Reise, die Lebensreise, bis hin zum vermeintlichen Ende, dem Tunnel mit Totenkopfsymbol. Dort durchbricht er die Grenze zu einer anderen Welt. Die Reise des Zuges ist zu Beginn des Films durch das Wort "Power" positiv konnotiert.

Menschen
Die Menschen, die sich aufgemacht haben, lassen sich nicht aufhalten, sie sind auf dem Weg, sie vertrauen diesem Weg. Ausgehend von einigen wenigen, einer "Kerngemeinde", bildet sich eine immer größere Gemeinschaft, beginnend mit einer Mutter und ihrem Kind. Charakteristisch für diese Gemeinschaft ist, daß Menschen verschiedenster Hautfarbe, Außenseiter, ein Rollstuhlfahrer aufgenommen werden, offenbar Leute, für die die normale, alltägliche Welt zu eng ist, die auf der Suche sind nach einem anderen, einem besseren Leben.

ein mythischer Sänger
Die Sängerin bestimmt den Film durch ihre Musik atmosphärisch, aber sie kommentiert die erzählte Geschichte auch:

Like a believer we are out to find/Like a believer we don't waste any time/Like a believer we stand on the ground I just can't understand/why it's so hard/to take each other by the hand and say that I love you

(wie Gläubige sind wir auf der Suche, wie Gläubige verschwenden wir keine Zeit, wie Gläubige stehen wir auf festem Grund, ich kann nicht verstehen, warum es so schwierig ist, den anderen bei der Hand zu nehmen und zu sagen, ich liebe dich)

die Transzendenz
Die Brücke trägt ins Leere hinein, der Zug entschwindet über dem Meer in den strahlenden Glanz einer hoffnungsvollen Zukunft Eine genauere Analyse wäre sicherlich noch ergiebiger. Offensichtlich ist, daß der Film eine in jeder Hinsicht optimistische, zukunftsorientierte Botschaft verkörpert. Er tut dies mit den Mitteln und der Ästhetik von Videoclips und bedient sich dabei eines Symbol- und Zeichenvorrats, der auch in anderen Horizonten, vor allen religiösen, Geltung hat. Allerdings ist es ein Werbespot. Und hier können nun kritische Einwände einsetzen:

Der Einwand "Werbung"
Im Zusammenhang mit der Benetton-Plakataktion, wo Fotos eines Neugeborenen, eines Mafia-Opfers, eines Gräberfeldes und andere Motive als "Werbung" eingesetzt wurden, gab es eine ausführliche Diskussion, ob der von Benetton vertretene Anspruch, aufrütteln zu wollen, eben doch nur ein Werbetrick ist. Auch die Gerichte haben sich inzwischen mit der Kampagne beschäftigt. Die C & A Werbung ist sicherlich in ethischer Hinsicht nicht so brisant wie die Benetton-Werbung, aber auch hier stellt sich die Frage, welche Glaubwürdigkeit die erzählte Geschichte hat, und welche Bedeutung den verwendeten Metaphern und Symbolen zukommt, wenn sie von der Werbung benutzt werden. Auf jeden Fall ist diese Art von Werbung charakteristisch für die derzeitigen Werbekampagnen. Es ist nicht mehr von Produkten die Rede, sondern Themen der Werbung sind Glück, gute Laune, Lebenssinn, Lebensgestaltung, Sicherheit usf., Inhalte, die erst nachträglich mit einem Produkt oder einer Firma in Verbindung gebracht werden.

Der Einwand der Trivialität
Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist nicht neu, und sie wird mit Mitteln erzählt, die etwas Glattes, Gestyltes haben. Die verwendete Musik liegt im Trend dessen, was gefällt, sie hat keine Kanten und Widerhaken. Medienprodukte, die mit diesem Werbeclip vergleichbar sind, gibt es viele. Im Grunde also ist die Sache trivial, künstlerisch und inhaltlich, und vor allem auch deshalb, weil es sich um Werbung handelt. Werbeaussagen können nur trivial sein.

Der Einwand der Entleerung von religiöser Symbolik
Der dritte Einwand ist am interessantesten. Medienkritiker wie Neil Postman betonen immer wieder, durch die Werbeindustrie finde eine Ausplünderung der Symbolbestände unserer Kultur statt und damit auch eine Abwertung und Entwertung der so mißbrauchten Symbole. Sie verlören an Bedeutung, würden beliebig und hätten dann in bedeutsameren Zusammenhängen als denen der Werbung keine Aussagekraft mehr.

Gegen die genannten Einwände kann man nun wiederum Einwände vortragen. Sicherlich ist dieser Clip nur Werbung und niemand wird sein Leben auf die Aussagen eines Werbeclips bauen und daran orientieren wollen. Irgendwie scheinen die Kritiker der Werbung das aber zu befürchten.

Werbung gibt sich immer, sofern sie seriös ist und werben, aber nicht täuschen will, als Werbung zu erkennen. Jeder kann sie von vornherein als das qualifizieren und einordnen, was sie ist: Werbung. Und zwar nicht nur, weil sie sich selbst als solche zu erkennen gibt (wenn auch, wie bei diesem Clip, manchmal überraschend und unvermutet), sondern auch, weil sie bestimmte Orte hat, wo man ihr begegnet: Vor Beginn des Hauptfilms im Kino, zu bestimmten Zeiten im Fernsehen, innerhalb von Blöcken von Werbung. Ihr massiven Manipulationscharakter zuzuschreiben, halte ich für eine Fehleinschätzung. Die Leute nehmen sie als das, was sie ist und sein will: Werbung, und ordnen sie entsprechend ein.

Sicherlich ist der Clip auch trivial. Aber Trivialität ist nicht nur negativ zu betrachten. Sie steht immer in Verbindung mit Popularität und vertrauten ästhetischen Mitteln. Sie ermöglicht im Raum des Alltags für viele Menschen den (vielleicht oberflächlichen, aber dennoch wichtigen) Bezug auf im Grunde mythische und für das Leben wesentliche Themen. Der Alltag ist trivial, er wiederholt sich in den immer gleichen Routinen und Vollzügen, aber in dieser Trivialität ist er eben auch das "eigentliche" Leben. Deshalb ist der Bezug auf das Triviale nicht zwingend selbst wiederum nur trivial. Sonst wäre kaum zu erklären, daß bei der Erstausstrahlung der Schwarzwaldklinik bis zu 28 Millionen Menschen vor den Bildschirmen saßen.

Umberto Eco behauptet, jede Kultur müsse und könne in allen ihren Aspekten als Kommunikationsphänomen untersucht werden und alle ihre Aspekte könnten als Inhalte der Kommunikation betrachtet werden. Auch diese Werbung ist also Teil unserer Kultur und kann als kulturelles Phänomen in den Blick genommen werden.

Sowohl formal als auch inhaltlich ist sie mit dem Bedeutungsfundus der abendländischen Tradition verknüpft. Sie will wirken und Menschen aufmerken lassen. Das kann sie nur, wenn sie auf die tatsächlichen Bedürfnisse, Träume und Vorstellungen ihrer Rezipienten eingeht und sich dazu des Sprach- und Zeichenvorrats bedient, der allgemein verstanden wird.

Wenn nun religiöse Symbole und Motive in ihr auftauchen, muß man das nicht als deren Entleerung sehen, ganz im Gegenteil. Ihre Verwendung im Zusammenhang der Werbung zeigt, daß sie eben noch nicht vollständig entleert sind und etwas mitteilen, wozu sie unter Umständen in ihren ursprünglichen Horizonten, etwa im kirchlichen Raum, gar nicht mehr in der Lage sind. Wenn, wie hier, in einem Werbespot das Wunderbare und die Transzendenz visualisiert werden, dann ist offensichtlich, daß "Religiöses", daß "Werte" in dieser Gesellschaft thematisiert.

b) Medienkritik II: The Kids are alright
1. Plug and Play - Schnittstelle Amerika

Den Stecker rein und ab geht es, so ungefähr wäre der Terminus aus der Computerwelt zu übersetzen. Seit dem Kriegsende geistert die Befürchtung durch Pädagogik und Kulturpolitik, die Amerikanisierung führe zu einer völligen Überfremdung und zerstöre die europäische Kultur. In die (schulische, erzieherische) Praxis übersetzt heißt und hieß das oft: Haltet euch von solchen Einflüssen fern, das ist nichts wert, es bringt nichts.

Aus der Sicht der Jugendlichen sieht das anders aus: Amerika ist die Schnittstelle, an die sich anzuschließen "In-Sein" garantiert. Und "In-Sein" ist in einem bestimmten Alter keine (zumindest nicht in erster Linie) anpasserische Haltung, sondern eine Entwicklungsnotwendigkeit. Wer nicht "dabei" ist, versäumt den Kairos (die Momente, in denen Denken, Fühlen und Handeln in Übereinstimmung kommen) seiner Jugend, denn die Auswüchse und Irrwege der eigenen Entwicklung zu korrigieren bleibt jenseits der Zwanzig Zeit genug und macht das Erwachsenwerden aus. Wenn also amerikanische Filme und amerikanische Rockmusik geliebt werden, so ist das nicht nur als Konsequenz der marktbeherrschenden Stellung der amerikanischen Medienkonzerne zu verstehen, sondern auch eine Entscheidung der Jugendlichen für die Authentizität ihrer Erfahrung: Hier finden sie, was sie bewegt, hier wird in Bilder, Worte und Musik gefaßt, was sie spüren, aber nicht ausdrücken können. Sie lieben sie nicht, weil ihnen diese Filme oder diese Musik jemand aufgeschwatzt hat, sondern weil sie Leben verkörpern: Ihr Leben und ihre Welt.

Natürlich ist da jede Menge Unausgegorenes, Unverstandenes, Klischeehaftes, Schrilles und Halbwahres in den Medien wie in den Köpfen der Mediennutzer, aber genau das stellt das Kontrastmaterial dar, an dem man eigene Erfahrungen und Einschätzungen relativieren und realistisch beurteilen lernt. Und die Bezugspunkte wechseln von heute auf morgen. Wie viele Phasen macht man durch, zwischen 12 und 20? Als Junge, als Mädchen? Die Pferdeposter werden von der Wand abgehängt, durch David Hasselhoff ersetzt und der wieder durch ein Werbeplakat, die Schlager weichen und Rock oder Techno dröhnt aus den Lautsprechern. Raumschiff Enterprise räumt den Comics den Platz, die Comics den Computerspielen.

Jetzt kann man sagen: Schnittstelle Amerika, gut und schön. Aber was ist mit den anderen, den "wertvollen" Schnittstellen? Schnittstelle Klassische Musik, Schnittstelle Literatur, Schnittstelle Latein, Schnittstelle Malerei usw.?

Wenn man sich an sie anschließt, aber von dort kein Strom fließt, ist die "Inkompatibilität" durch schulische Didaktik nur sehr eingeschränkt zu beheben. Das spricht aber weder gegen die Schnittstelle selbst noch gegen den, der von dort keine Impulse empfängt: Auch Schnittstellen haben ihre Qualität, ihre Zeit, ihre Voraussetzungen an Erfahrungen, Gefühlszuständen und Verständnisfähigkeit. Vermutlich lernt man mit sechzehn aus einer Seifenoper doch mehr über zwischenmenschliche Beziehungen als aus Goethes "Wahlverwandschaften". Mit Vierzig mag sich das umgekehrt haben.

Es ist dennoch unbestreitbar, daß die ästhetische Qualität von Medien (das Maß ihrer inhaltlichen und formalen Komplexität) ein objektives Element ist. Der Wert der Schnittstelle Popmusik oder der Schnittstelle Hölderlin ergibt sich nicht allein daraus, ob sich jemand an sie anschließt, sondern auch daraus, wer, wann und unter welchen Umständen sich mit Gewinn anschließen kann. Da sei die Behauptung gewagt, daß Hölderlin komplexer, perspektivereicher, rauschhaltiger ist als viele Produkte etwa von dort keine Impulse empfängt: Auch Schnittstellen haben ihre Qualität, ihre Zeit, ihre Voraussetzungen an Erfahrungen, Gefühlszuständen und Verständnisfähigkeit. Vermutlich lernt man mit sechzehn aus einer Seifenoper doch mehr über zwischenmenschliche Beziehungen als aus Goethes "Wahlverwandtschaften". Mit Vierzig mag sich das umgekehrt haben.

Es ist dennoch unbestreitbar, daß die ästhetische Qualität von Medien (das Maß ihrer inhaltlichen und formalen Komplexität) ein objektives Element ist. Der Wert der Schnittstelle Popmusik oder der Schnittstelle Hölderlin ergibt sich nicht allein daraus, ob sich jemand an sie anschließt, sondern auch daraus, wer, wann und unter welchen Umständen sich mit Gewinn anschließen kann. Da sei die Behauptung gewagt, daß Hölderlin komplexer, perspektivereicher, rauschhaltiger ist als viele Produkte etwa der Popmusik, also mehr Anschlußmöglichkeiten bietet, aber man kann niemanden dazu zwingen, diese Schnittstelle wahrzunehmen. Man kann ihn allenfalls dazu anleiten und hinführen.

Und wem Hölderlin nicht gefällt? Der versteht etwas anderes und entdeckt anderes für sich. Zum Beispiel an der Schnittstelle Amerika. Nicht zu vorschnell sollte man behaupten, daß das eine besser und das andere schlechter ist.

2. Plädoyer für den Walkman

Erwachsene zeigen sich durch das Gescheppere aus den Kopfhörern von walkmanbestückten Jugendlichen regelmäßig genervt. Aber was die einen nervt, ist den anderen Lebenselixier. Wir sind inzwischen eine durchgehende Musikberieselung gewohnt: Im Wartezimmer des Arztes, im Kaufhaus, im Supermarkt und beim Essen im Restaurant düdeln die gerade aktuellen Songs aus den Lautsprechern. Die weitverbreitete Nutzung des Walkman scheint diese Entwicklung endgültig auf die Spitze zu treiben: In der S-Bahn, beim Radfahren und auf dem Sonntagsspaziergang werden die Kopfhörer aufgesetzt, um die Beschallung lückenlos zu machen, und, wie manche befürchten, das Gehör und die Musikkultur endgültig zu ruinieren.

Unsere Wirklichkeit hat aber noch eine andere Beschallungs-Dimension, die nicht so leicht zu charakterisieren ist, weil sie diffus ist und nicht sofort wahrgenommen wird: den Lärmteppich, der im wesentlichen durch den Straßenverkehr erzeugt wird. In den Städten ist es unmöglich, Stellen zu finden, wo es wirklich still ist. Das ist die eigentliche Dauerberieselung, nicht die durch Musik. Jede Stille stellt sich über kurz oder lang als bloß vermeintliche Stille heraus: sei es, daß das städtische Grundrauschen oder das Geräusch der naheliegenden Autobahn allmählich ins Bewußtsein dringt, sei es, daß sich hoch fliegende Verkehrsflugzeuge, eine Sportmaschine oder ein Hubschrauber unüberhörbar bemerkbar machen. In den Häusern und Wohnungen gibt es ein Vielzahl elektrischer Geräte, die punktuell (Staubsauger), periodisch (Kühlschrank) oder permanent (Heizungen, Ventilatoren, Klimaanlagen usw.) Geräusche verursachen. Betrachtet man die "rieselnde" Musik in verschiedenen öffentlichen Räumen, die weitgehende Ausstattung von Autos mit Autoradios und Kassettengeräten und die intensive Nutzung des Walkman, vor allem durch Jugendliche, auf dem Hintergrund dieser Tatsache, erscheint der weitverbreitete Musikkonsum in einem anderen Licht:

Es handelt sich um Versuche, dem diffusen Lärm geordnete Klang-Welten gegenüberzustellen, ähnlich wie die Stadtplaner an lärmenden Straßenkreuzungen rauschende Brunnenanlagen vorsehen, um mit positiv besetztem Wassergeräusch vom Krach der Straße abzulenken.

Besonders klar zeichnet sich diese Funktion der Musiknutzung beim Walkman ab. Mit Hilfe des Walkman kann ich all den Geräuschen, die ich nicht hören will, denen ich aber nicht ausweichen kann, Geräusche meiner eigenen Wahl entgegensetzen. Unordnung weicht einer eigengestalteten Ordnung: Ich bewahre mir meine Handlungsfähigkeit wenigstens hinsichtlich dessen, was ich zu hören bekomme. Sehe ich also jemanden mit einem Walkman, muß ich nicht unbedingt denken: Da macht sich einer die Ohren kaputt. Ich kann eine andere Perspektive einnehmen: Da versucht jemand, sich selbst und die Wirklichkeit als angenehm zu erleben.

Und das machen nicht nur die Jugendlichen. An jedem Sitzplatz eines ICE befindet sich eine Kopfhörerbuchse, die den Zugang zu mehreren Musikprogrammen erlaubt. Man kann darin das weitere Vordringen der Musikberieselungs(un)kultur erblicken, aber ich denke, diese Tatsache signalisiert etwas Ähnliches wie die Nutzung des Walkman in öffentlichen Verkehrsmitteln: Eine Reise mit einem ICE ist (als Reise) kein Erlebnis mehr (und folglich erfährt man auch nichts), sondern eine Translation: Ein Mensch wird möglichst schnell von Punkt A nach Punkt B verbracht. Die Landschaft rast vorbei, der Fahrgastraum ist klimatisiert, man kann die Fenster nicht öffnen und einen guten Teil der Zeit verbringt man in Tunnels. Was also spricht da gegen ein Auswandern in Hyperrealitäten, die da heißen Musik (oder sogar Buch)?

Der Walkman ist das Symbol einer Entwicklung, die für die ganze Gesellschaft charakteristisch ist. Mangels äußerer Erfahrungsräume oder deren Verwüstung und Optimierung auf Autoverkehr, Warenaustausch oder was immer hin, verstärkt sich die Tendenz, das Leben in inneren Erfahrungsräumen zu suchen. Der Walkman ist der mobile Zugang zu Sinn- und Erinnerungsspeichern in einer ärmer und leerer werdenden Umwelt. Irgendwo ist das natürlich Flucht, aber die Schuld dafür ist nicht bei den Walkman-Hörern zu suchen. Wer kann leben ohne solche Hyperrealitäten?

3. Hacker und Haecksen, Sprayer und andere Medienaktivisten

Das Pentagon, Telefonzentralen oder Banken fürchten sich vor den jugendlichen Computerfreaks, denen es gelingt, in ihre allseits gesicherten Rechenzentren einzudringen und sich Zugang zu Dateien zu verschaffen, um sich Vorteile zu erschleichen oder irgendwelchen Unsinn zu stiften. Das ist nicht rechtens und kippt schnell in handfeste Kriminalität um, aber den Zeitungsleser freut es doch irgendwie, zu erfahren, daß die glatten Fassaden der Macht und des Geldes Ritzen, Risse und unkontrollierte Eckchen haben, wo die gewitzte Jugend ansetzt, um die Überlegenheit des Geistes über die Technik zu demonstrieren. Brechen nicht auch die Sprayer, die S-Bahnen und öde Betonflächen bepinseln, eine Lanze für die Lebendigkeit des Lebens (sie brechen natürlich keine Lanzen, sondern versprühen Farbe)?

Was immer man gegen solche Aktivitäten mit guten Gründen einwenden kann: sie dokumentieren die Instrumentalisierung des Mediums Computer oder des Mediums Kunst durch Jugendliche zu ihren Zwecken. Da geht es nicht um passive Berieselung, sondern um produktive Aktivitäten mit den Mitteln der Zeit.

Instrumentalisierung der Medien klingt sehr technisch, vielleicht wäre "kreativer Umgang" der bessere Ausdruck. Kinder und Jugendliche nutzen Medien unter den Aspekten Sinnstiftung, Gefühlserweiterung, Stimmungsverstärkung, Speicherung von Erlebnissen und Erfahrungen usw. und durchbrechen so die Oberflächenhaftigkeit und Glätte der technischen Mittel. Der Bezug, den sie zu Medien herstellen, erschöpft sich keinesfalls im bloßen "Konsum", der kulturkritisch immer gegen die Medien ins Feld geführt wird. Auch das, was als "passiver Konsum" beschrieben wird, stellt ja eine Instrumentalisierung etwa des Fernsehens dar, und sei es nur, um die Langeweile zu vertreiben.

Im Vorwurf des bloßen Konsums ist immer ein Moralismus spürbar, der nicht verstehen will, sondern eine "Verwerflichkeit" und "Sinnlosigkeit" des Handelns oder Verhaltens unterstellt: Ihr solltet etwas Besseres mit eurer Zeit tun als fernsehschauen, Musik hören, am Computer sitzen oder Videospiele spielen.

Das Argument greift nur dann, wenn es wirklich stimmt, daß "die Jugend" tendenziell kein wirkliches Interesse an ihrem Leben hat und keinen Antrieb, nach einem besseren, reicheren, erfüllenderen Leben zu suchen. Diese stillschweigende Annahme und Unterstellung bestreite ich.

Man muß die umfassende Mediennutzung gegen den pädagogischen Mainstream-Strich lesen. Kinder und Jugendliche arbeiten eben auch mit Hilfe der Medien an ihrer Identität und Weltorientierung. Wenn man ihnen nicht zugesteht, daß sie bei dieser Arbeit von sich aus Erkenntnisse gewinnen (auch darüber, was Qualität ist und was nicht, was Zeitverschwendung ist und was nicht, was ihnen schadet und was nicht), dann wird Erziehung zur Indoktrination. Sie kann immer nur eine Hilfestellung dazu sein, daß jemand die Welt und sich selbst für sich selbst begreift. Das Begreifen selbst entzieht sich den Einflußmöglichkeiten der Pädagogik, was nicht nur für die Mathematik gilt, deren Gewißheit ja darin besteht, daß ein Beweis den allermeisten Menschen von sich her einleuchtet. Sie kann jedoch niemandem "beweisen", daß der Beweis stimmt, wenn der Betreffende das "Einleuchten" nicht erfährt. Es scheint nun so, daß Kindern und Jugendlichen im Raum der Medien gelegentlich anderes und mehr einleuchtet, als es ihnen im "pädagogischen" Raum (Schule, Eltern, Kirche und alle, die wissen, was gut und richtig ist) widerfährt.

5. In der Schule der Medien

Jugendliche gehen nicht nur in die Haupt-, Real- oder welche Schule auch immer, sondern befinden sich gleichzeitig in der Schule des Lebens. Diese Schule des Lebens ist heute weithin auch eine Schule der Medien. Von allen Seiten dringen medial vermittelte Themen und Inhalte in die Schule ein. Schule verändert sich, muß sich verändern. Ein Bildungskanon allgemein verpflichtender Natur macht in einer pluralistischen Industriegesellschaft keinen Sinn mehr. Schüler, Lehrer, Lehrplankommissionen und Kultusministerien spüren, daß die Institution Schule in einer Krise steckt. Was kann sie noch leisten, was soll sie leisten? Nun ist es keineswegs so, daß nichts geschehen würde. Was aber konkret geschieht und geschehen soll, ist strittig, gerade im Blick darauf, was die Medienwirklichkeit für die Schule bedeutet. Medienpessimisten treten gegen die Pragmatiker an, Computereuphoriker gegen Anhänger des klassischen Bildungsgutes, Traditionshüter gegen Progressisten usw. Trotzdem ist eines wohl allen Parteien klar: Die Schule muß sich in weit intensiverer Weise als bisher mit der Medienpädagogik beschäftigen und Konzepte entwickeln, die den Schülern brauchbare Orientierungen auch für die Welt der Medien liefern, in der sie sich bislang vermutlich besser auskennen, als die Institution, in der sie auch darüber etwas lernen sollen. Ich möchte drei Akzente setzen, die mir bei der Entwicklung solcher Richtlinien wichtig erscheinen. (Man verzeihe die "Solls" und "Müßte". Die haben Vorschläge so an sich).

a) Lob der Mehrsprachigkeit

Zweifellos ist die Schule in der Praxis nicht mehr so textorientiert, wie das früher der Fall gewesen ist. Overheadprojektoren sind Standard, Film und Video haben zumindest Fuß gefaßt, der Computer ist als Arbeitsgerät auf dem Vormarsch. Dennoch scheint es so, daß eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Sprache der Medien nicht stattfindet. Bei Diskussionen mit Lehrern sind zwei Denkmuster in aller Regel sofort präsent:

  1. Schriftkultur steht höher als Bildkultur. Dabei wird meist übersehen, daß die audiovisuellen Medien keineswegs "sprachlose" oder reine "Bild"-Medien sind, sondern in der Regel Sprache und Bild aufeinander beziehen und das eine durch das andere kommentiert wird.
  2. Es bestehen feste Vorstellungen, was gut, schlecht, wahr oder falsch ist. Die sogenannte "Hochkultur" wird gegen die populäre Kultur (was immer heißt: Das Triviale, Minderwertige, Schädliche) ausgespielt. Vielleicht läßt sich diese Fixiertheit und Voreingenommenheit an einem Bild erläutern. Die Manie des vergangenen Sommers war das "Magische Auge". Niemand, der nicht mit starrem Blick vor sich wiederholenden Mustern stand, um endlich des versprochenen dreidimensionalen Erlebnisses teilhaftig zu werden. Diese Illusionsbilder scheinen mir eine schöne Metapher für die diskutierte Problematik: Sie haben eine Oberfläche, die durchaus "lesbar" sein kann, weil sie parallele Reihen von Fischen, Kugeln, Pflanzen oder anderen Dingen darstellen. Das ist die Ebene der "Schrift oder Hochkultur". Die Schule alphabetisiert für diese erste Ebene, indem sie Schreiben und Lesen beibringt, d.h. die Fähi gkeit vermittelt, Fische, Kugeln und Pflanzen zu erkennen. Sie weigert sich jedoch, einen erweiterten, d.h. "mehrdimensionalen Textbegriff" zu akzeptieren, der andere Ebenen wahrnimmt und interpretiert. Deshalb kann sie die Zeichen und Texte der Medienwelt nur als Störung, undurchschaubares Dickicht oder wirres Puzzle interpretieren, nicht jedoch als ebenfalls sinnvollen, nämlich "dreidimensionalen" Text. Der Prozeß des "Lesenlernens" muß deshalb in Zukunft auf einen erweiterten Text bezogen sein und eine Zwei- oder Mehrsprachigkeit vermitteln, die es erlaubt, Texte aller Art, also auch Medientexte (Filme, Bilder, Animationen usw.), angemessen zu lesen. Zunehmend wird es aber auch ein Thema sein, solche Medientexte selbst zu "schreiben" (Jeder Besitzer einer Videokamera arbeitet mit der "Schrift" einer anderen Sprache). Wenn man meint, ein Gewaltfilm rufe vor allem Gewalt hervor, liest man nur eine Dimension des Films, seine Oberfläche. Einer "Medienalphabetisierung" darf es daher nicht allein darum gehen, die Medien aufklärerisch zu hinterfragen und zu kritisieren, sondern sie muß aktive Medienkompetenz vermitteln. Diese Kompetenz bestünde auch in der Fähigkeit zu übersetzen: Den Sinn einer Sprache mit den Mitteln einer anderen Sprache zu erschließen. Es sollte dann nicht mehr darum gehen, daß etwa ein Roman besser als seine Verfilmung sei, sondern man würde daran arbeiten, Möglichkeiten, Mittel und Grenzen der jeweiligen "Texte" zu verstehen und sie als sich ergänzende, aufeinander beziehbare, aber prinzipiell gleichwertige Ausdrucksformen zu betrachten.
b) Abschied vom Bildungskanon

Die Schule muß sich ins Netzwerk der Mediengesellschaft einklinken. In weit größerem Umfang als das bisher der Fall ist, muß sie Neugier auf die Welt der Medien entwickeln und Mut zum Vorläufigen, aber auch zum Scheitern zeigen. Sie sollte zwar nie den Versuch aufgeben, "normative", d.h. bewährte und ergiebige Schnittstellen zu benennen, aber weit intensiver nach neuen Schnittstellen suchen, als das bisher der Fall ist. Wo gibt es welche Schnittstellen, in welche Welten führen welche Anschlüsse, wohin führt die Schnittstelle Literatur, wohin die Schnittstelle populäre Musik? Was passiert, wenn ich mich an Comics anstöpsele? Prüfet alles, das Gute behaltet. Momentan sieht es eher so aus, daß man das Gute von anno dazumal her zu besitzen glaubt und gar nicht versucht, das Neue zu prüfen. Die Befürchtung von Leuten wie Klaus Haefner, dem Bremer Informatiker, daß die Schule über kurz oder lang "dereguliert" werden könnte, d.h. daß genuin schulische Aufgaben außerhalb der Schule bearbeitet werden, muß ernst genommen werden. Zwar steckt die Multimedia-Welt trotz großen Werbegetöses der Industrie noch in den Anfängen, aber es ist abzusehen, daß Schüler die Schule zunehmend als ein informelles System erleben, das zu langsam, veraltet und unflexibel ist. Vieles, was sie wissen wollen, können sie außerhalb der Schule schneller, genauer, selbstbestimmter und lustbetonter erfahren oder sich aneignen. Es sei die Behauptung gewagt, daß auf die gesellschaftlichen Entwicklungen über Lehrplanrevisionen nicht mehr angemessen reagiert werden kann, sondern nur über ein völlig neues Schulkonzept. Entscheidende Veränderungen sind heute nicht nur im Bereich der Werte und Wissensinhalte zu finden, sondern sie sind auch struktureller Natur. In seiner gegenwärtigen Gestalt muß das System Schule scheitern, weil es überfordert ist. Einige Gründe dafür sind:

  • Homogene Milieus, wo noch vorhanden, zerfallen zusehends; die Schule kann nicht mehr darauf vertrauen, daß bestimmte Wertvorstellungen und Handlungsorientierungen (traditioneller, religiöser, schichtspezifischer Natur) als weithin selbstverständlich akzeptiert werden.
  • Die Schule kann nicht mehr wie früher auf die normierende Kraft des Erziehungssystems Familie bauen. Die zunehmende Vielfalt von unterschiedlichen "Erziehungskonstellationen" führt einerseits dazu, daß Erziehungsaufgaben der Familie in die Schule abwandern (was durchaus auch als Verlust von Erziehungsautorität der Eltern und Erziehungsberechtigten betrachtet werden kann), und andererseits diese negative Entwicklung ins "Positive" gewendet als Forderung der Eltern auf einer anderen Ebene ebenfalls auf die Schule zuläuft. Man erwartet von der Schule die Lösung von Problemen, die dort nicht entstanden sind.
  • Die Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft (was zunächst nur heißt, daß die unterschiedlichsten kulturellen Traditionen nebeneinander existieren) führt dazu, daß die Schule mit einer Vielzahl von Sprachen, Mentalitäten, ethischen Vorgaben usw. konfrontiert wird, die unter Umständen zu fundamentalen Konflikten mit der eigenen Weltsicht führen.
  • Der Ausbau der Informationsgesellschaft bewirkt, daß es neben der Schule eine Vielzahl weiterer "Erzieher" gibt, die, ob man das begrüßt oder nicht, Wissen und Werte vermitteln und zu schulischen Konzepten konforme oder eben auch konträre, kritische, relativierende Lebenskonzepte vertreten. Für die Schule ist diese Zersplitterung der Welt -, Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung ein fundamentales Problem. Sie hat den Anspruch, Orientierungen zu geben, vermag es aber nur noch, indem sie die Welt verkleinert und zurechtstutzt, Zusammenhang und Ordnung behauptet, wo Fragmentarität und Widersprüchlichkeit erlebt werden. Ganze Universen werden zu durchdidaktisierten Konzentraten, komplexeste Zusammenhänge zu abfragbaren Spiegelstrichaufzählungen und wundersam übersichtlichen Tafelbildern: Reduktion von Komplexität bis zur Unverständlichkeit. Den Anspruch, Orientierungen zu geben, kann und darf die Schule nicht aufgeben. Aber sie muß von dem Glauben Abschied nehmen, objektivierbares und systematisierbares Wissen sei die entscheidende Orientierung und es gebe noch einen umfassenden Kanon des Wissens und der Werte, der für alle verpflichtend sei. Ihre Zielsetzungen und Inhalte müssen fundamentaler, formaler, handlungsorientierter und gegenwartsbezogener werden.
  • Sie müssen fundamentaler werden, weil bei rasant anwachsenden Wissensbeständen auf allen Ebenen der Schule die Aufgabe zukommt, nicht mehr nur Wissen, sondern vor allem Methoden zum Auffinden und Erschließen von Wissen, sowie Bewertungskriterien für das jeweils zugängliche Wissen zu vermitteln.
  • Sie müssen formaler werden, weil die Welten, in denen die Schüler außerhalb der Schule leben, immer größere Verschiedenheit zeigen. Es wird weniger darauf ankommen, Inhalte und Wertvorstellungen zu übermitteln, wichtiger wird es sein, Orte zu definieren, an denen die unterschiedlichen Welten kommunizieren, um Gemeinsamkeiten überhaupt erst zu erarbeiten: Welche Inhalte sind wichtig? Nach welchen Regeln gehen wir miteinander um? Welche Werte sind trotz und wegen der Unterschiedlichkeit von Bedeutung?
  • Sie müssen handlungsorientierter werden, weil die platonische und idealistische Vorstellung von einer vorgegebenen Welt der Ideen und Wahrheiten, auf deren Erkenntnis es wesentlich ankomme, von prozeßorientierten Denkweisen abgelöst werden muß. Nicht die Wahrheit überhaupt steht im Vordergrund, sondern die Frage nach Handlungsweisen, die in den Umbrüchen der Gegenwart Freiräume, Humanität, das jeweils Bessere ermöglichen. Das ist nicht "bloßer" Pragmatismus, sondern ein Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß, aus dem neue Traditionen erwachsen können.
  • Sie müssen gegenwartsbezogener, gesellschaftsorientierter und schülerbezogener werden. Es gibt ganze Wirklichkeitsdimensionen, die in der Schule nicht oder nur rudimentär repräsentiert sind. Die Medienwelt ist eine davon. Ähnliches gilt für die Welt der Wirtschaft, der Institutionen oder der Kunst. Wo stehen Themen wie Gesprächsführung, Konfliktlösungsstrategien, Gruppendynamik auf dem Plan?
c) Realzeit, Museale Zeit, Lebenszeit

Es sind zwei Extreme, die in unterschiedlicher Perspektive ein gegenwärtiges Problem beleuchten. Während des Golfkrieges war viel von "Realzeit" die Rede: Die anfliegende Rakete überträgt ihren eigenen Anflug mit minimalster Zeitversetzung bis zum Aufschlag im Ziel auf die Kontrollmonitore. Als Wirklichkeit erscheint so das, was "direkt", "live" abgebildet wird. Als real wird nur der Prozeß an sich erfahren, ein elektronisches Nunc stans: Welt der Medien. Die Gegenbewegung heißt Musealisierung: Ausstellungen und Museen erfreuen sich größter Beliebtheit: Man glaubt zu betrachten, was wirklich Geltung und Bestand hat. Hier ist es gesammelt, hier wird es bewahrt und gehortet, ein zeitloser, virtuell ewiger Raum. "Realzeit" ist Gegenwart an sich, Zeit, die sich unreflektiert im Vollzug erschöpft. Die "Museale Zeit" ist Vergangenheit an sich, die sich in der Reflexion erschöpft, ebenfalls ein Nunc stans: Welt der Schrift. Das Problem, das durch die beiden Extreme beleuchtet wird, ist die Frage nach Orientierung in der Zeit, eine zentrale Frage für jedes Konzept von Schule. Lebt Schule "Realzeit", bildet sie nur das jeweils Aktuelle ab und unterliegt den Schwankungen der Moden, des Zeitgeistes, der Tendenzen. Lebt Schule "Museale Zeit", dann wird sie zur erstarrten Bildungsmaschinerie, zum drögen Hort des vermeintlich Immergültigen, zur Zwingburg des Geistes. Beide Orientierungen verkörpern aber nicht nur Gefahren, sondern ebenso Chancen. Sich der "Realzeit" anzunähern bedeutet, am Puls der Zeit zu sein, sich dort zu befinden, wo Schüler wirklich sind. Die "Museale Zeit" akzentuieren heißt auch, dem Geltung zu verschaffen, was sich wirklich bewährt hat. Schule verfügt über die Lebenszeit von Schülern. Schüler tendieren zur "Realzeit", das System Schule zur "Musealen Zeit". Ein Entweder - Oder kann nicht die Lösung sein. Es geht um den gegenseitigen Bezug: "Realzeit" muß im Licht der "Musealen Zeit" interpretiert und erschlossen werden. Umgekehrt muß sich die "Museale Zeit" an der "Realzeit" messen lassen und ihr standhalten. Rückt die Schule den Pol zu stark an die Realzeit, vergeudet sie Lebenszeit der Schüler, weil sie ihnen nicht mehr mitteilt, als die Tatsache, daß die Zeit vergeht: Ihre Zeit bleibt leer. Nähert sie sich zu sehr der musealen Zeit, ist ihre Botschaft, daß das wirkliche Leben bereits vergangen ist. Auch so bleibt die aktuelle Zeit der Schüler leer. Sie scheint erst dann Bedeutung bekommen zu können, wenn sie vergangen ist. Ziel jeder Form von Erziehung kann jedoch nur sein, Lebenszeit als Fülle der Zeit zu erschließen. Sie soll die Fähigkeit schulen, den eigenen Kairos zu erkennen und wahrzunehmen. Das kann sie nur, wenn ihr zentrales Interesse nicht Dokumentation, sondern Erschließung von Leben ist. Und Leben ist heute nicht nur, aber auch, und das in zunehmendem Maße, ein über Medien vermitteltes, erschlossenes, begriffenes, gespiegeltes, verstandenes und verwirrtes Leben. Wenn die Schule daher die Welt der Medien nicht prinzipiell als Quelle von Lebensorientierungen in den Blick nimmt und als wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Text der Gegenwart begreift, wird sie weiter an Autori tät verlieren, sowohl für die Schüler, als auch für die Gesellschaft überhaupt. Ihre entscheidende Herausforderung heute ist es, die Gegenwart der Schüler zu erreichen, ohne ihren Erziehungsanspruch zu verraten. Auch wenn man nicht wie Haefner einen "homo sapiens informaticus" heraufdämmern sehen muß, ist doch absehbar, daß restaurative Rückwendungen keine Chance haben werden. An der Rasanz, Unerhörtheit und Unaufhaltsamkeit der Entwicklung besteht kein Zweifel. Die guten alten Zeiten, wenn es sie je gegeben hat, wird es nicht mehr geben. Aber wer sagt, daß nicht auch die Gegenwart ihre guten Seiten hat?

6. Kommentiertes Literaturverzeichnis

Wer Klaus Theweleits Bücher kennt, wird bemerken, daß ich ihnen viel verdanke, nicht zuletzt die Idee, den Text so zu illustrieren, wie ich es getan habe.

Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt von Joseph Bernhart. Frankfurt a.M. und Hamburg 1955.
Wie empfiehlt man ein Buch, das seit Jahrhunderten gelesen wird? Vermutlich empfiehlt es sich selbst am besten. Ich jedenfalls kenne keine Autobiographie, die in vergleichbarer Dichte auf Erlebnisse und ihre Bedeutung für ein Leben reflektiert.

Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensoziologie. Frankfurt a.M. 1980.
Ein sogenannter "Klassiker". Nach seiner Lektüre hatte ich begriffen, daß gesellschaftliche Entwürfe in Form von Gesetzen, Weltanschauungen, wissenschaftlichen Theorien und Institutionen aller Art Mauern ("Fakten") verkörpern, die genauso hart und undurchdringlich sind wie "wirkliche" Mauern. Auch hier macht es wenig Sinn, primäre und sekundäre Wirklichkeiten gegeneinander auszuspielen.

Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. In: ders.: Die zwei Labyrinthe. Lesebuch. München 1988.
Borges' Beitrag zur Diskussion um die künstliche Intelligenz, Echtzeit-Simulationen, die Konstruktion von Wirklichkeit, den Platonismus und Festplatten ab 10 Gigabyte.

Communio et progressio. Pastoralinstruktion über die Instrumente der sozialen Kommunikation veröffentlicht im Auftrag des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils. Trier 1980.
Ein kirchliches Dokument zu Medienfragen, das es in sich hat. Obwohl es mehr als zwanzig Jahre alt ist, stellt es für kirchliche Medienarbeit (in der ich tätig bin) immer noch einen zentralen Bezugspunkt dar. Was dort in Blick auf kompetenten Umgang mit Medien und Öffentlichkeit gefordert wird, ist bis heute (im kirchlichen Raum) allenfalls in Ansätzen verwirklicht.

Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. München 1994.
Ein ungemein anregendes Buch, wenn man darüber nachdenkt, was "Bilder" für die Wahrnehmung des eigenen Ich und die einen umgebende Welt bedeuten. Wie den Embryo in seiner Fruchtblase haben die wenigsten Menschen je den "blauen Planeten" aus dem All gesehen. Dennoch ist dieses Bild in allen Köpfen und hat unser Selbstverständnis massiv verändert.

Dylan, Bob: Songtexte 1962. Übersetzt von C. Weissner. 33. Auflage. Frankfurt a.M.
Das ist (zusammen mit der Musik auf alten Platten und neuen CDs) einer meiner (und nicht nur meiner: 33. Auflage!) Erinnerungsspeicher. Er enthält auch die Zeile, die ich meditiere, wenn ich Jugendliche, ihre Vorlieben, ihre Musik zu verstehen suche: "For I'm on one too many mornings and a thousand miles behind/Denn ich bin einen Tag zu spät und tausend Meilen hintendran".

Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. 6. Auflage. München 1988.
Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. München 1990.
Eco zu lesen ist schwierig, vor allem wenn er als Wissenschaftler über die Semiotik handelt. Aber was er dort theoretisch grundlegt, wird in seinen Essays (und seinen Romanen) auf unterhaltsame, anschauliche und vergnügliche Weise umgesetzt. (Vgl. etwa "Die Innovation im Seriellen" in "Über Spiegel und andere Phänomene").

Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Gespräche mit Eckermann. Leipzig o.J.
Die weiter oben zitierte "medienpädagogische" Stelle setzt sich wie folgt fort (nachdem Eckermann eingewandt hatte, man lasse doch bei Kindern Vorsicht walten): "Das ist recht löblich und ich tue es selbst nicht anders; allein halte ich diese Vorsicht durchaus für unnütz. Die Kinder haben, wie die Hunde, einen so scharfen und feinen Geruch, daß sie alles entdecken und auswittern, und das Schlimme vor allem anderen." (687).

Lindgren, Astrid: Ronja Räubertochter. Hamburg 1982.
"Ronja" als Film und als Buch: In beiden Fällen wunderschöne Variationen zum Thema Erwachsenwerden. Und bekanntlich wird man ja nie wirklich erwachsen.

Mann, Thomas: Der Zauberberg. Berlin und Frankfurt a.M. 1954.
Das einschlägige Medienkapitel heißt "Fülle des Wohllauts". Nicht alle Medien sind Kunst, aber "Kunst und Leben" ist ein Thema, das auch in der Mediendebatte seinen Platz hat. Und zu den ästhetischen Aspekten der Wirkungsfrage ist Thomas Mann nicht der schlechteste Informant.

Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 4. Auflage. Frankfurt a.M. und New York 1993.
Schulze erschließt es mit seiner Begrifflichkeit und belegt es mit statistischem Material, daß sich unsere Gesellschaft in eine Reihe von Milieus gliedert, die auch durch die Art ihrer Mediennutzung kenntlich sind. Sie differenziert sich immer feiner aus, aber was wie ein Chaos wirken kann, ist stets auch der Versuch, Ordnungen herzustellen.

Theweleit, Klaus: Buch der Könige. (Orpheus und Eurydike. Orpheus am Machtpol. Recording Angels' Mysteries). Basel und Frankfurt a.M. 1988 (Bd. 1) und 1994 (Bd. 2x und 2y).
Theweleit ist eine wahre Fundgrube für alle Freunde von Literatur, Biographien, Bildbänden, für Popfans, Leseratten (2000 Seiten Lese- und Bildfutter!) und Medienfreaks, für Radiohörer und kritische Geister. Es geht um Benn, Warhol und Bob Dylan, um Frauen und Männer, Bilder und Filme, um Freud, Elvis Presley und um Comics, kurz um alles, was interessant ist. Noch in den ausufernden Abschweifungen, Einschüben und Fußnoten entdeckt man immer neue anregende Gedanken.

Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie. 2. Auflage 1984. Frankfurt a.M. 1984.
Es gibt Bücher, bei denen man sich keine Hoffnung zu machen braucht, daß man sie wirklich verstehen könnte. Dennoch liest man sie mit Gewinn und sei es nur, daß man auf Stellen wie die folgende stößt: "Das Bewußtsein flackert; und selbst wo es am hellsten ist, gibt es ein kleines Brennpunktgebiet klarer Erleuchtung und ein großes Gebiet im Halbschatten liegender Erfahrung, das in dunklem Erahnen von intensiver Erfahrung berichtet. Die Einfachheit klaren Bewußtseins ist kein Maßstab für die Komplexität vollständiger Erfahrung." (486)

Wörther, Matthias: Computer oder die Sehnsucht nach dem Absoluten. Zentralstelle Medien. Bonn 1990. (Reihe Medienpraxis. Modelle für die Medienpädagogik 19).
Wörther, Matthias: Vom Reichtum der Medien. Theologische Überlegungen - Praktische Folgerungen. Würzburg 1993.
In beiden Publikationen finden sich einige Ansätze, Überlegungen und Elemente, die in variierter und veränderter Form in den vorliegenden Essay eingegangen sind.

Neil Young/Crazy Horse: Rust never sleeps. Warner Bros. Records 1979.
Neil Young: Mirror Ball. Warner Bros. Records 1995.
Die weiter oben (S.17) zitierte Songzeile stammt aus dem Album Rust never sleeps. Kurt Cobain, Lead-Sänger der Gruppe Nirvana, der sich 1994 erschoß, bezieht sich in seinem Abschiedsbrief ebenfalls auf "Rust never sleeps": "It's better to burn out than to fade away". Ich dagegen beziehe mich mit Vorliebe auf die Zeile "Rock'n'Roll is here to stay...Rock'n'Roll can never die". Und die verheißt Zukunft. Soviel zu unterschiedlichen Medienwirkungen. Das Zitat stammt aus dem Album Mirror Ball.

Mit freundlicher Genehmigung des Authors Matthias Wörther.
Homepage: woerther.here.de