Wolfgang Schindler, Das Ende der Privatheit als (gesellschafts-) politisches Problem i

in: IJAB (Hrsg), (K)ein Ende der Privatheit. Strategien zur Sensibilisierung junger Menschen beim Umgang mit persönlichen Daten im Internet, Berlin 2009

Das Jahr 2009 verzeichnete von Anfang an eine Reihe von Datenmissbrauchsskandalen, etwa die illegale Überwachung von Mitarbeitern in Betrieben, bei Bundesbahn, Telekom, Lidl. Das Wissen, dass nur nicht erhobene Daten nicht missbraucht werden, gewinnt an Evidenz angesichts randvoller CDs mit Kunden-, Konten-, und Mitarbeiterdaten, die auf dem Schwarzmarkt kursieren und von deren Existenz wir erst erfahren, wenn damit Profit erzielt werden soll, durch Erpressung oder Verkaufsangebote, die öffentlich werden.

"Die Fachtagung will das Phänomen der unreflektierten Preisgabe persönlicher Daten bei jungen Menschen ... diskutieren und Strategien zur Sensibilisierung junger Menschen erarbeiten", versprechen die Veranstalter in der Einladung. Denn deren Umgang mit persönlichen Daten im Netz wecke als "Kulturphänomen" Besorgnis. Mit medienpädagogischen Konzepten wolle man Jugendlichen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Grundrecht näher bringen und vermitteln, dass sie im Internet keine ausreichende Kontrolle über ihre Daten haben.

Das klingt zeitgemäß, gut gemeint, aber ist es deswegen auch gut? Denn hier wird eine gesellschaftspolitische Thematik, für manche gar eine drohende Gefährdung der Demokratie durch den Einstieg in einen Überwachungs- und Präventionsstaat Deutschland, zum jugendkulturellen Phänomen umdefiniert und an Jugendlichen ersatzweise zu bearbeiten geplant; am Tagungsende fällt dann der Startschuss für eine professionell gemachte Aufklärungskampagne der "leichtsinnigen" Jugend, die mit dem Web noch nicht richtig umzugehen wisse.

Seit Januar 2009

ist die Vorratsdatenspeicherung legal und Pflicht, doch noch steht eine Verfassungsbeschwerde dagegen zur höchstrichterlichen Entscheidung an. Die Online-Durchsuchung mittels staatlich installierter Überwachungssoftware, "Bundestrojaner" genannt, ist weiterhin auf der politischen Agenda und rief scharfen Protest und unerwünschte Assoziationen hervor: "Stasi 2.0" - ein Begriff, der die Sorge vor einem Systemwechsel plakativ auf den Punkt bringt. Erst wenn die Unschuldsvermutung des Staates gegenüber den Bürgern nicht mehr gilt, wird es nötig, jede und jeden präventiv zu überwachen. Im Präventionsstaat könne "man sich den Staat nicht mehr durch anständiges Verhalten vom Hals halten", formulierte ii– Winfried Hassemer, bis vor kurzem Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes.

"Der Bundesrat hat in seiner Plenarsitzung [am 10. Juli 2009 ws] den heftig umkämpften Gesetzesentwurf zu Web-Sperren im Kampf gegen die Verbreitung von Kinderpornographie über das Internet nach einer kurzen Aussprache abgenickt." iii Die –trotz ausreichender, ja empörter öffentlicher Diskussion- tolerierte Nebenwirkung ist dabei der Einstieg in eine Infrastruktur der Zensur der Inhalte, nicht mehr nur der Kommunikationsverbindungsdaten, unter dem Deckmantel der Kinderpornografiebekämpfung.

Es fällt schwer, angesichts dieser Entwicklungen nicht von einer Verschiebung aus dem gesellschaftspolitischen in den pädagogischen Raum zu sprechen. Erleichtert fühlt sich eine Erwachsenengeneration hier jedenfalls kompetent, die gerade mal wieder durch neue niedrigschwellige Kommunikationsdienste wie Blog und –schlimmer noch- Twitter erneut verunsichert ist. Hier kann sie sich weitgehend schmerzfrei sorgen um Jugendliche, die ihre Wolfgang Schindler, Das Ende der Privatheit als (gesellschafts-) politisches Problem 2 Party-Suffbilder und gefakten Profile, Partnerwerbung also, in Webcommunities publizieren. Diese Sorge ist nicht ohne Substanz, aber es mutet schon sehr eigenartig an, wenn hier auf der Tagung darüber debattiert wurde, wie viel und was man an Web-Inhalten filtern könne oder müsse und dabei das Wort "Zensur" überhaupt nie vorkommt. Die Chinesen haben beim letzten olympischen Spielen ja auch nur gefiltert, nein, filtern lassen.

Das ist alles nicht unser Thema hier im Workshop?

Doch, das ist es, zentral sogar, denn wir sollen uns lt. Themenvorgabe um politische Bildung kümmern – und die kommt ohne Analyse der Lebenssituation nicht aus, darf gesellschaftspolitische Entwicklungen und Kontroversen nicht ausklammern, sondern muss und will das Verständnis für die Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung fördern. Unterließe sie das, würde solche Sorge und pädagogische Fürsorge zu Indoktrination und Propaganda. Der erste Input hier im Workshop fokussiert daher konzeptionelle Grundlagen des noch jungen, verfassungsrechtlich geschützten Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung im Kontext der Entwicklung von vernetzten IT- Systemen.

Daten

wurden schon immer geschützt, mechanisch, kryptografisch, steganografisch, denn sie geben Kontrolle über das Objekt, das sie abbilden, wie schon im Märchen vom Rumpelstilzchen drastisch einsichtig wird. Wissenschaftlich präzise stellt die Informationswissenschaft den selben Zusammenhang dar iv: Genaugenommen trifft der Satz "Wissen ist Macht" nicht zu, sondern "Information ist nicht Macht, sondern ermöglicht Machtausübung". Der Schutz der Daten gegen Bekanntwerden, Löschen, Manipulieren ist daher nötig, aber oft auch nicht vollkommen. Illegales Handeln wird meist geheim gehalten, die Strafverfolgung zielt auf seine Aufdeckung, auf das Überwinden der (Datenschutz-) Vorkehrungen der Täter. Das gelingt, je nach (polizeilichem) Aufwand mehr oder weniger. (Beispiele Bankgeheimnis, Subventionen, Sozialhilfemissbrauch, Geheimdienste).

Wer sich legal verhält, also zunächst jeder bis zum Beweis des Gegenteils, hat keine Strafverfolgung zu befürchten, keine staatliche Ausspähung seiner Daten – das ist Teil des Kontrakts zwischen Staat und Individuum in demokratischen Gesellschaften. Deswegen ist der Slogan vom "Datenschutz als Täterschutz" fundamental falsch, ebenso wie die naive Aussage "Ich habe nichts zu verbergen – Datenschutz interessiert mich daher nicht."

Beim Schutz der Privatsphäre geht es also um die Wahrung der Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat. und nicht nur um die Abwendung von Peinlichkeiten. Wer sich an die Gesetze hält, muss dem Staat keine Einsicht in seine Lebensführung gewähren, dieser darf nicht mal hinschauen, was sich im geschützten Bereich der Privatsphäre abspielt. Das ist im Kern die eigene Wohnung, aber auch neuerdings der Festplatteninhalt des eigenen PCs. So hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts "mit Urteil vom 27. Februar 2008 die Vorschriften zur Online-Durchsuchung sowie zur Aufklärung des Internet für verfassungswidrig und nichtig erklärt" v und damit ein neues Grundrecht formuliert: das 'Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme’. Wir haben also das Recht zur Verschlüsselung unserer Daten, ob wir das tun oder auch lassen. Ohne effektiv handhabbaren Datenschutz gibt es jedenfalls keine glaubwürdig geschützte Privatsphäre des Bürgers. Dieser Schutz ist auch dann zu gewährleisten, wenn ihn nicht alle Bürger in gleicher Weise in Anspruch nehmen.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung

wurde im Kontext der "Stahlnetz" - Rasterfahndung nach der RAF und der geplanten Volkszählung 1984 erstmals kodifiziert. Warum erst 1984? Weil durch die neuartigen effizienten Möglichkeiten der maschinellen Verarbeitung von Daten es erstmals möglich wurde, die DaWolfgang Schindler, Das Ende der Privatheit als (gesellschafts-) politisches Problem 3 ten eines ganzen Volkes zu durchsuchen und damit Einblick in die Privatsphäre eines jeden einzelnen zu gewinnen. Das wurde und wird verdachtsunabhängig praktiziert, vorhandene Daten wurden nicht zum Zweck der Terrorabwehr erhoben. Das war und ist daher illegal, mutmaßlich eben auch die derzeitige Vorratsdatenspeicherung und die Auswertung von Bewegungsprofilen durch die Autobahnmautsysteme.

Das gefährdet die Demokratie. Denn schon der Verdacht, beobachtet zu sein, verändert das Verhalten, begründet das BVG. Insofern ist es legitim und sogar dringend notwendig, vom "Ende der Privatheit" zu sprechen, als Herausforderung der demokratischen Verfassungskultur, die wesentlich bedrohlicher ist als die hier in der Tagung thematisierte "jugendkulturelle Herausforderung" durch deren Verhalten in den sozialen Netzwerken des Web 2.0. Diese Freiheit der ungestörten legalen Entfaltung der Persönlichkeit existiert unter vielen Bedingungen nicht gut, dort, wo jeder vom andern "alles" weiß, etwa im "Dorf" statt in der "anonymen Großstadt". "Stadtluft macht frei" ist eine Erkenntnis, die nur im Zeitalter vor der maschinellen Datenverarbeitung zutreffend war. (Rainer Metz wies gestern hier auf der Tagung auch darauf hin.)

Die Zweckbindung der Datenerhebung

ist nötig, weil es Privatheit nicht nur als geschützten Kernbereich gibt, der konzentrisch von einem Ring immer größer werdender Öffentlichkeiten umgeben ist vi. Privatheit ist auch, dass ich mein Leben in unterschiedliche Sektoren einteilen kann, ja muss, zwischen denen keine Daten fließen: meinem Arzt und leider auch der Krankenkasse gewähre ich notgedrungen auch Einblick in meinen Körper, das geht aber weder meinen Arbeitgeber noch meine Eltern als Jugendliche(r) etwas an. Dem Pfarrer mag man Einblick in die Seele gewähren, das geht aber die Justiz nichts an. Freunden zeigen manche Menschen ggf. Nacktphotos etc., aber eben nur ihnen. Ggf. weiß Amazon von meinen literarischen Vorlieben und macht mir weiterführende Lesevorschläge. Das ist anregend, solange meine Daten dort nicht ohne meine Einwilligung weitergeben werden.

"Gläsern", datentechnisch transparent

werde ich erst dann, wenn ich nicht verhindern kann, dass von Dritten Daten aus verschieden Sektoren meiner Lebensvollzüge zusammengefasst werden, zu Zwecken, denen ich nicht zugestimmt habe. Das kann zu handfesten Einschränkungen und Nachteilen führen, wie diese Beispiele illustrieren: eine Versicherung verweigert einen Lebensversicherungsvertrag aufgrund von DNA-Analysedaten, ein Kredit wird verweigert aufgrund einer Wohnadresse in einer "problematischen" Gegend, eine Lehrerin beteiligt sich mit einem fiktivem Profil in SchülerVZ und verteilt später Verweise aufgrund dortiger Äußerungen, Bewerber werden gegoogelt oder ihre Buchstellungen bei Amazon ausgewertet, um deren politischen Einstellung zu erkunden und ggf. abgelehnt. Wer da behauptet, nichts zu verbergen zu haben, hat mit Sicherheit nur nicht genügend nachgedacht.

Die gute Nachricht für BRD-Bürger: Solche Situationen, den Datenfluss zwischen getrennten Sektoren meiner Lebensführung, darf ich aufgrund meines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verhindern oder kann gar erwarten, dass diese mit Mitteln des Strafrechts gewährleistet wird. Erst die Existenz von Computersystemen zur maschinellen Verarbeitung von Daten machen solche sektor-übergreifenden flächendeckenden Recherchen möglich. Eine Bürgeridentifikationsnummer ist daher bislang noch unzulässig, aber faktisch wohl schon eingeführt in Form der bundesweiten lebenslangen Steuernummer vii.

Daher muss heute gesetzlich auseinandergehalten werden, was einst mangels EDV-Technik ohnehin getrennt war. Weil einmal erhobene Daten gerne weiter genutzt werden ("Data- Mining"), macht es Sinn, sie nach Verwendung zwingend wieder zu löschen oder besser, auf Wolfgang Schindler, Das Ende der Privatheit als (gesellschafts-) politisches Problem 4 ihre Erhebung, wenn immer möglich, zu verzichten. Denn "das Internet vergisst nicht", wie die Werbespots der auf der Tagung vorgestellten Kampagne 'Watch Your Web’ Jugendlichen zutreffen erläutern.

Umgekehrt, das ist der Traum aller Marketingleute, aber auch Polizeibehörden, einen Schlüssel zu bekommen, um gezielt Personen herausfiltern zu können, für Marketingaktionen, aber warum nicht auch für eine Sicherheitsverwahrung viii, damit diese gar keine Rechtsverstöße begehen können. Hier wird deutlich: Wesentlich ist nicht nur, ob gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verstoßen wurde, sondern auch von wem. Im einen Fall droht eine unerbetene Werbelawine im Briefkasten, im anderen das Ende des demokratischen Staates, der Beginn des fürsorglichen Überwachungsstaates. Da ich nicht weiss, was Geheimdienste tun, lasse ich deren Wirken hier unberücksichtigt, habe aber klare Vorstellungen davon: Die Frage ist nicht, ob mitgelesen wird, sondern nur, wer mitliest. So gesehen ist der (hier auf der Tagung mit Empörung zitierte) CEO von 'Sun MS’ doch nur realistisch, wenn er sagt: "We have no privacy anyway, forget it!" Die Hoffnung an dieser Stelle: ich setze auf das Fortbestehen der strikten Trennung von Geheimdienst und Polizei im demokratischen Rechtsstaat.

Und erst ab hier nun, auf dieser Grundlage macht es Sinn, über Pädagogik zu reden. Über Jugendliche, die sich unbekümmert verhalten, weil Kümmern ohnehin nichts bringt und deren monierte "Selbstentblößung einer Generation" als Identitätsarbeit 2.0 möglicherweise für ihre Lebenssituation angemessener ist als das starre Beharren auf Konzepten von Privatheit aus einer vorindustriellen Zeit ohne internetbasierte soziale Netzwerk-Gemeinschaften.

Anmerkungen

  1. Fachbeitrag in: (K)ein Ende der Privatheit. Strategien zur Sensibilisierung junger Menschen beim Umgang mit persönlichen Daten im Internet. RabenStück Verlag, Berlin 2009
  2. zitiert aus einem Interview mit Wolfgang Clement in: "Stoppt die Gesetzesmaschinen!", Online-Ausgabe der Cicero, Februar 2008, unter http://www.cicero.de/839.php?ausgabe=02/2008
  3. Stefan Krempel, Gesetz zu Web-Sperren passiert den Bundesrat, heise online am 10.7.2009 Weblink vom 30.10.2009: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Gesetz-zu-Web-Sperren-passiert-den-Bundesrat-6091.html
  4. Helmut Krcmar, Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik, Stichwort "Information", unter: http://www.enzyklopaedie-der-wirtschaftsinformatik.de/wi-enzyklopaedie/lexikon/daten-wissen/Informationsmanagement/Information
  5. Bundesverfassungsgericht - Pressestelle - Pressemitteilung Nr. 22/2008 vom 27. Februar 2008, nachzulesen unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg08-022.html
  6. Diese Einsicht in den grundlegenden Unterschied zwischen Ringmodell und Sektorenmodell als Metapher für Privatheit verdanke ich dem Rechtinformatiker Wilhelm Steinmüller, einem der geistigen Väter des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung. Grundlegend dazu: Informationstechnologie und Gesellschaft, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1993), Inhalt unter: http://www.informaticsapplied-textbook.info/
  7. Thilo Weichert, "eGovernement als zentralisierte Bürgerkontrolle", in: Till Müller-Heidelberg u.a. (hrsg), Grundrechte-Report 2009, S. 62ff.
  8. Weiter als unsere Phantasie für gewöhnlich reicht sind etliche hier beschriebenen Fälle, etwa der: Sönke Hilbrans, "Straftäter linksmotiviert – Große Worte zum kleinen Preis", in: Till Müller-Heidelberg u.a. (hrsg), Grundrechte-Report 2009, S. 58ff.

Quelle

Der Artikel steht unter der CC_Lizenz BY-NC-SA 3.0 (Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland)
Quelle: http://www.josefstal.de//kurse/OXQe.html