Fred Schell - Medienkompetenz "In eigener Regie"

'Medienkompetenz' ist heute ein zentraler Begriff der Medienpolitik und Medienpädagogik. Er bezeichnet grundlegende Qualifikationen der Menschen im Umgang mit Medien. Wie Medienkompetenz konkret aussehen soll und welche Wege es gibt, insbesondere Heranwachsende dazu zu befähigen, darüber gibt es unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte. Ein modellhaftes Projekt, das Förderprogramm "In eigener Regie", das Jugendgruppen bei der Produktion von Filmen/Videos und Audiobeiträgen unterstützt, ist m.E. ein herausragendes Beispiel zur Förderung von Medienkompetenz. Dieses Projekt soll hier auf der Basis seiner konzeptionellen Grundlagen vorgestellt werden.

Die Zielsetzung: Medienkompetenz

In einer Gesellschaft, in der Kommunikation und Interaktion ganz wesentlich über Medien vermittelt sind, ist Medienkompetenz ein wesentlicher Bestandteil kommunikativer Kompetenz, also der Fähigkeit, an der gesellschaftlichen Kommunikation und Interaktion angemessen teilhaben zu können.

Medienkompetenz bedeutet mehreres:

  1. Medienentwicklungen erfassen, kritisch reflektieren und bewerten können. Erst damit wird es möglich, eine abwägende Auseinandersetzung mit dem technisch Machbaren und dem gesellschaftlich Wünschenswerten zu führen.
  2. Selbstbestimmt, kritisch-reflexiv und genußvoll mit Medienangeboten und -inhalten umgehen können. Dies ist Voraussetzung für einen Medienkonsum aufgrund eigener, nicht fremdbestimmter Wünsche und Bedürfnisse, was angesichts der Fülle angebotener und künftig noch vermehrter Medieninhalte immer wichtiger wird.
  3. Medien aktiv und kreativ als Kommunikationsmittel nutzen können, um eigene Sichtweisen von Welt und Individualität, von relevanten Themen und von persönlichen Problemen kreativ und wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen, mit Sprache, Bildern und Tönen.

Um den genannten umfassenden Zielsetzungen näher zu kommen, bedarf es einer langfristigen pädagogischen Auseinandersetzung mit den Medien und vielfältiger Formen und Methoden pädagogischen Handelns.

Eine wesentliche Methode einer handlungsorientierten Medienpädagogik ist die aktive Medienarbeit, die v.a. der Förderung der Ziele unter 2) und 3) dient. Dem Projekt "In eigener Regie" liegt diese Methode zugrunde.

Die Methode: Aktive Medienarbeit

Aktive Medienarbeit bedeutet die Be- und Erarbeitung von Gegenstandsbereichen sozialer Realität mit Hilfe von Medien. Die Medien werden von ihren Nutzern 'In-Dienst-genommen', d.h. selbsttätig gehandhabt und als Mittel der Kommunikation gebraucht. Letzteres kann bedeuten, sie zu Recherchen einzusetzen, sie zu Informationszwecken heranzuziehen, sie zur Klärung von Sachverhalten, Interessen, Einstellungen, Sicht- und Verhaltensweisen etc. zu verwenden, sie zu Demonstrationszwecken zu gebrauchen oder sie zur Darstellung und Vermittlung eigener Meinungen, Absichten, Problemsichtweisen usw. handzuhaben. In den Produktionen, die im Rahmen von "In eigener Regie" bisher entstanden sind, wird diese Bandbreite aktiver Medienarbeit sichtbar.

Das Projekt "In eigener Regie" bietet mit seiner Methode aktive Medienarbeit eine große Bandbreite an Lernerfahrungen:

  1. Eine intensive Auseinandersetzung mit einem Thema
    Die Herstellung eines eigenen Film- oder Audiobeitrages motiviert, sich mit einem Thema der Lebenswelt zu beschäftigen, und zwingt gleichzeitig dazu, intensiv in die gewählte Thematik einzusteigen (bereits bei der Entwicklung einer Geschichte, der Formulierung eines Exposés oder eines groben Drehbuchs für die Antragstellung auf Förderung), den Gegenstand genau zu analysieren und die Ergebnisse der eigenen Auseinandersetzung systematisch für den Film oder Hörbeitrag aufzubereiten und kreativ-gestaltend medial umzusetzen. Dies gilt für die Befassung mit 'großen' gesellschaftlichen Themen wie Ökologie, Arbeitswelt, Ausländerfeindlichkeit, Medien u.ä. ebenso wie für eine Auseinandersetzung mit 'kleinen' Themen des Lebensalltags wie Streitigkeiten in der Familie, Musikvorlieben, erste Liebe, Freizeitspaß, Schulstreß u.v.m. Ob es Ziel ist, eine filmische Dokumentation über Kriegsflüchtlinge aus Bosnien und ihre Situation in der Bundesrepublik zu drehen, oder die plumpe Machart so mancher Infotainment-Sendungen mit einer bissigen Satire zu entlarven, oder die Suche nach der eigenen Identität in einem Hörspiel darzustellen, oder den Umgang mit menschlichen Gefühlen wie Liebe, Haß und Eifersucht in einer Spielhandlung zu zeigen - immer ist das Medium 'Mittel' zur intensiven Auseinandersetzung mit einem Thema und zur Darstellung der Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, um mit anderen hierüber in Kommunikation zu treten.
    All die genannten Themen und noch viele mehr finden sich, gründlich bearbeitet, in den Produktionen des Projekts "In eigener Regie" wieder, die in wochenlanger, oft monatelanger Arbeit entstanden sind.
  2. Das Erproben von Rollen
    Identität entwickelt sich v.a. durch die Übernahme, kritische Reflexion und Modifizierung oder Verlassen verschiedener Rollen, durch die Auseinandersetzung mit den Konflikten, die unterschiedliche Rollen mit sich bringen und durch das Lernen, Frustrationen zu ertragen, die Folge solcher Konflikte sind.
    Die Film- und Audioprojekte im Rahmen von "In eigener Regie" bieten viele Möglichkeiten, unterschiedliche Rollen gedanklich, z.B. bei der Durchdringung und Darstellung eines Themas aus unterschiedlichen Sichtweisen, oder praktisch, z.B. bei der Verteilung von Arbeiten als Regisseur, Kamerafrau, Tonmann, Schauspieler, Organisatorin, Cutter u.a., einzunehmen und sich darin zu erproben.
  3. Die Möglichkeit, soziale Verhaltensweisen zu entwickeln
    Aktive Medienarbeit als pädagogische Methode ist immer ein Gruppenprozeß. Das ständige Aushandeln von Themen, Meinungen, Wertungen etc., die Verteilung von Aufgaben, das stringente Verfolgen gemeinsamer Zielsetzungen und das Erleben des Aufeinander-angewiesen-Seins im Team sind beste Voraussetzungen für Prozesse sozialen Lernens. In etlichen Projekten von "In eigener Regie" spielten und spielen die Gruppenprozesse eine ebenso wichtige Rolle wie die Film- oder Audioarbeit. In solchen Phasen wird die Medienpädagogik in erster Linie zur Pädagogik, zum Krisenmanagement oder zur Motivationsarbeit. Von den bisher mehr als 150 durchgeführten Produktionen sind erst zwei deshalb gescheitert, weil in der Gruppe nach massiven Konflikten tragfähige Strukturen nicht mehr hergestellt werden konnten.
  4. Das Entdecken eigener Fähigkeiten
    Aktive Medienarbeit stärkt das Selbstwertgefühl, da sie durch die vielfältigen Aufgaben, die bei der Erstellung eines Hörbeitrags oder dem Drehen eines Films zu vergeben sind, allen Beteiligten mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen die Möglichkeit für Erfolgserlebnisse bietet. Und sie fördert die Entdeckung der eigenen Kreativität, die in den vielfältigen Rollen erprobt werden kann. Immer wieder ist in den Projekten von "In eigener Regie" zu beobachten, wie stolz und zufrieden die Produzentinnen und Produzenten mit ihrem Beitrag sind, den sie zum Gelingen der Produktion beigesteuert haben, wie damit ein gestärktes Selbstwertgefühl an die Stelle mancher Unsicherheit tritt. Viele Beteiligte machen nach Ende ihres Projekts weiter in der Medienarbeit, setzen ihre oft neu entdeckten Stärken ein, entwickeln ihre Kreativität fort. Einige haben im Projektverlauf ihre Liebe zum Medium entdeckt, sind inzwischen bei einer Filmhochschule oder anderen Ausbildungsstätten gelandet und haben eine berufliche Perspektive in diesem Feld entwickelt.
  5. Das Erlernen der Mediensprache
    Wer selbst Medienprodukte herstellt, lernt zwangsläufig die 'Sprache' der Medien kennen, ihre Gestaltungsmittel ebenso wie ihre Manipulationsmechanismen. Damit besteht auch die Chance zu lernen, die Medien insgesamt besser entschlüsseln und ihre Botschaften kritisch-reflexiv hinterfragen zu können. Wer bei "In eigener Regie" einen Film gedreht oder einen Audiobeitrag gebaut hat, wird nicht unbedingt weniger fernsehen oder Radio hören, aber dies sicher mit einem anderen, einem kritischeren Blick und Verständnis tun.
  6. Die Teilnahme an der öffentlichen Kommunikation
    Medienprodukte sind immer geschaffen für eine Öffentlichkeit, ganz gleich, wie groß diese ist, da sie per se Mittel zur Kommunikation sind. Die Präsentation des in eigener Regie erstellten Produkts ist gleichzeitig eine Konfrontation der eigenen Position mit der anderer und damit ein Überprüfen eigener Sichtweisen und Argumentationen. Alle geförderten Gruppen eines Projektjahres präsentieren ihre Ergebnisse bei einer zweitägigen Abschlußveranstaltung und diskutieren diese mit den anderen Produzentinnen und Produzenten und mit Fachleuten aus dem professionellen Medienbereich. Viele Gruppen organisieren darüber hinaus öffentliche Vorführungen im Freizeitheim, im örtlichen Jugendcafé oder in der Aula ihrer Schule. Sie nutzen die Chance, mit Bildern und Tönen das eigene Anliegen zu äußern und sich damit in die öffentliche Diskussion einzumischen.

Das Handlungsfeld: Jugendarbeit und Schule

Medienpädagogik muß dort stattfinden, wo Jugendliche sich treffen und wo Lernen im Sinne von Auseinandersetzung mit der Lebenswelt stattfindet. Die besten Voraussetzungen für eine aktive Medienarbeit und damit für Projekte im Rahmen von "In eigener Regie" bietet die außerschulische Jugendarbeit. Dort ist es möglich, sich intensiv und ohne Zeitdruck auf den notwendigen längeren Prozeß der medialen Produktion einzulassen. Außerdem basiert die Teilnahme an den Angeboten der Jugendarbeit auf Freiwilligkeit, was eine wichtige Voraussetzung für die Herstellung medialer Produkte ist. Sie muß Jugendlichen, auch wenn sie, vielleicht auch weil sie viel 'Arbeit' bedeutet, Spaß machen, sonst nehmen sie die vielen Mühen nicht auf sich.

Eine authentische Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt kann durch aktive Medienarbeit natürlich auch in der Schule erfolgen, was einige "In eigener Regie"-Projekte auch zeigen. Allerdings gelingt dies nur dann überzeugend, wenn die entsprechenden Voraussetzungen - Verlassen des 45-Minuten-Takts, keine Benotung der medialen Ergebnisse, keine dirigistischen Eingriffe durch Lehrer usw. - geschaffen werden.

In eigener Regie: Daten zum Projekt

"In eigener Regie" ist ein Projekt des Institut Jugend Film Fernsehen (JFF) und der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM). Es wurde 1991 eingerichtet. Das Projekt unterstützt seitdem Jugendmediengruppen aus Bayern, die einen Film (Super-8, 16mm oder ein Videoformat) oder einen Hörbeitrag erstellen wollen. Die Förderung umfaßt

  • einen finanziellen Beitrag für entstehende Kosten, z.B. für Verbrauchsmaterial, Fahrtkosten, Kopierkosten, Kostümleihe und Requisiten, Catering etc.
  • die Bereitstellung von Geräten (Aufnahmeeinheiten, Schnittplätze usw.) und
  • pädagogische und medienfachliche Betreuung.

Förderanträge können bis zum 31. März jeden Jahres gestellt werden. Da die finanziellen Mittel dieses Projekts nicht unbegrenzt sind, entscheidet eine Jury darüber, welche Projekte eine Förderung erhalten. Eine ganze Reihe an Kriterien spielen für die Auswahl eine Rolle. Wichtig ist v.a., ob das Projekt im wesentlichen von den Jugendlichen selbst ausgearbeitet ist und durchgeführt wird, ob eine ernsthafte und authentische Beschäftigung mit dem gewählten Thema zu erwarten ist (auch wenn es sich um eine Satire oder Parodie handelt) u.ä.m. Wichtig ist aber auch die Berücksichtigung der Regionen im Flächenstaat Bayern, da dieses Projekt ja auch das Ziel verfolgt, die aktive Medienarbeit in ländlichen Regionen anzuregen. Diese sind medienpädagogisch gegenüber den Städten, in denen häufig Medienzentren oder ähnliche Einrichtungen existieren, unterversorgt. Und ein Aspekt für die Jury ist auch, daß die ausgewählten Projekte eine gewisse Bandbreite aktiver Medienarbeit abbilden.

Am Beginn der jährlichen Projektphase steht ein intensives Arbeitswochenende, das in Kooperation mit der Georg-von-Vollmar-Akademie in Kochel durchgeführt wird. Bis Ende des Jahres arbeiten die einzelnen Projekte, betreut durch Fachpersonal. Die Betreuung wird auf die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe zugeschnitten. Sie kann beispielsweise eher im pädagogischen Bereich liegen, aber sich auch stärker auf dramaturgische Fragen oder auf die technische Umsetzung des Vorhabens beziehen. Eine Abschlußveranstaltung, bei der alle geförderten Gruppen ihre Produktionen zur Diskussion stellen, schließt das Förderjahr ab.

Seit 1991 bis Ende 1997 entstanden 76 Filme, v.a. Spielfilme (Dramen und Komödien, Satiren, Krimis und Literaturverfilmungen), aber auch Dokumentationen, Experimentelles und Surreales. Außerdem wurden 78 Audiobeiträge erstellt, in der Mehrzahl Features, aber auch Reportagen, Experimentelles und viele Höspiele. Darüber hinaus ist im letzten Jahr eine CD-ROM entstanden.

Seit 1995 gibt es außerdem eine sog. Basisförderung für Maßnahmen, die die aktive Medienarbeit v.a. in den Regionen anregen sollen, aus denen wenige oder keine Anträge kommen. Solche Basis-Maßnahmen können Workshops oder andere regional orientierte Aktivitäten sein, die ergebnis-offen sind.

Fazit

"In eigener Regie" ist ein sehr erfolgreiches Projekt: Es hat viel dazu beigetragen, die pädagogische Beschäftigung mit Medien in allen Regionen Bayerns zu forcieren; es hat vielen Jugendgruppen eine intensive Film- und Audioarbeit ermöglicht; qualitativ hochwertige Produktionen sind entstanden; es hat auch dazu geführt, daß einige beteiligte Jugendliche ihre Fähigkeiten entdeckt und berufliche Perspektiven in der Medienarbeit gefunden haben. Das Projekt ist ein anschaulicher Beweis dafür, wie durch aktive Medienarbeit die Entwicklung von Medienkompetenz gefördert werden kann.

Veröffentlicht in: TELEVIZION 11/1998/1, S. 25 - 28