Dieter Baacke, Medienpädagogik im Umbruch

Eine Skizze

Medienpädagogik (mit ihren verschiedenen Stuben im großen Hause wie: Mediendidaktik, Medienerziehung, Medienkunde...) hat eine Vergangenheit, über die sie sich freilich bisher kaum Rechenschaft gegeben hat. Eine Geschichte der medienpädagogischen Reflexionen zu schreiben unter der Frage, welche medienpädagogische Praxis sich tatsächlich aus ihnen abgeleitet hat, ist es längst an der Zeit. Sie kann hier nur angedeutet werden: Schon in der Aufklärung machte man sich Gedanken über den pädagogischen Zweck, den die Presse (Kinderzeitschriften, Journale, Ratgeber etc.) haben könnten. Bis heute gibt es Schulbücher, die ältesten und immer noch neu produzierten "pädagogischen Medien". Die Schrift, das Alphabet, die Sprache: längst würdige und gewürdigte Instrumente des Lernens und der Bildung – wennzwar man schon im frühen 19. Jahrhundert die "Lesesucht" der Mädchen, die Neigung des "einfachen Volkes" zum Kolportageschrifttum beklagte. Heute fürchtet Neil Postman die Auslöschung des Alphabetisierungsprozesses mit seiner Stufung des Lebens in allmähliche Aufklärung und Einführung ins Erwachsenensein durch das allen zugängliche Fernsehen, das durch die emotional überrennenden Botschaften des Bildes, die psychothymisch jedem zugänglich sind, kognitives und emotionales Wachstum, Unterscheidungen, Einführungen und vorläufige Geheimnisse auslöscht. Die allen und jederzeit zugänglichen Fernsehprogramme planieren - so Postman - die Kultur zur Wüste, in der jeder vorne und hinten steht, weil es keinen Orientierungspunkt mehr gibt.

Solche kulturkritischen Räsonnements haben die Medien seit jeher begleitet, und immer waren sie auch Domäne der Pädagogen. Denn sie, die für Erziehung und Bildung von Kindern und jugendlichen zuständig sind, mußten überlegen, welche kaum kontrollierbaren, jedenfalls von ihnen nicht kanalisierbaren Einflüsse das Kino und das Radio, das Fernsehen und das Videogerät, das Telespiel und der Computer haben könnten. So ist die Geschichte der Medienpädagogik einerseits immer die einer großen Sorge vor kultureller Zerstörung. "Kultur" war dabei, der Breitenwirkung der neuen Medien entsprechend, weit verstanden: sie umfaßte in der Medien-Kritik die Lebensform von Menschen, vor allem natürlich von Kindern und Jugendlichen. Die Tradition der Medien-Dämonisierung setzte sich beim Kino fort, ja sie verschärfte sich. Ein Beispiel unter vielen aus der Anfangszeit: Der Pädagoge Adolf Sellmann schrieb 1913 im Vorwort seines Buches "Kino und Schule": "Die Lehrerschaft ist dazu berufen, auf all die Gefahren, die vom schlechten Kino her drohen, aufmerksam zu machen und unsere Jugend davor zu schützen. Die Schule muß aufklärend wirken, damit man innerhalb und außerhalb ihrer Mauern einsieht, eine wie schlechte geistige Nahrung oft auch heute noch in den Kinos geboten wird. Sie muss für Aufklärung sorgen in der Presse, auf Elternabenden und Konferenzen. Sie muß darauf drängen, dass gesetzliche Maßnahmen und polizeiliche Verordnungen erlassen werden, damit unsere Jugend vor all den verderblichen Einflüssen, die durch das Kino möglich sind, behütet wird." Medienpädagogik als Bewahrpädagogik: diese Tradition ist lang. In diesem Zusammenhang ist Medienpädagogik vor allem immer Jugendschutz gewesen.

Andererseits sah man in den Medien aber stets Instrumente kultureller Förderung. Das deutlichste Beispiel stellt die Schulfilmbewegung dar. Noch vor Kriegsende, im Sommer 1918, gründete die UFA eine Kulturfilmabteilung mit der Produktion von Fortbildungs- und Schulfilmen. Bereits ein Jahr später bot die UFA ca. 100 Lehrfilme für unterschiedliche Bereiche an (von Naturwissenschaften über Erdkunde, Technik und Gewerbe bis zu Landwirtschaft und Sport.). Nach dem 1. Weltkrieg empfahl ein Erlass des Ministers für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung die Durchführung von Filmvorführungen in der Schule sowie die Ausrüstung mit den dafür notwendigen Gerätschaften. Geld war dafür freilich damals keins vorhanden, ähnlich wie heute. Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Filmindustrie sich des Lehrfillms annahm; hervorzuheben ist auch, dass neben der Schule die Fortbildung einbezogen wurde - und die außerschulische Jugenderziehung. Die ca. 70 regionalen Bildstellen, die bis Ende der 20er Jahre in Preußen eingerichtet waren, hatten Kontakte mit vielen Jugendverbänden und den Jugendringen, die es an verschiedenen Orten gab. Diese Kooperationszusammenhänge sind heute nicht so lebendig. Zwar hatte das Münchener Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, das nach 1945 die Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (RWU) des Nationalsozialismus ersetzte, als gemeinnützige GmbH von den Kultusministern der Länder gegründet, den Auftrag, Film, Lichtbild und Tonträger "in der Wissenschaft und als Lehr- und Lernmittel für alle Schulden zu entwickeln, die freie Volksbildung und die Jugendpflege zu fördern unddamit der Allgemeinheit zu dienen" (so heißt es im Gesellschaftervertrag des FWU, München 1950, im §3); in der Folgezeit aber wurde vor allem der Kontakt mit den Schulen - insbesondere über die Bildstellen, die meist ehren oder (seltender) nebenamtlich von Lehrern geleitet wurden, intensiviert, während die Weiterbildung und vor allem die außerschulische Jugendbildung zurücktraten. Übrigens war es stets auch die progressive Intelligenz, Gruppen der SPD in der Weimarer Republik (Walter Benjamin beispielsweise sah Chaplin-Filme als Medien unterhaltsamer Volksaufklärung, also in heutiger Sprache als eine Art "alternativer Öffentlichkeit" an) für die die Massenmedien gerade wegen ihrer allgemeinen Zugänglichkeit Instumente der Aufklärung breiter Schichten waren: Medien als Hersteller von mehr Chancengleichheit.

2.

Diese knappen Hinweise sollen deutlich machen: (1) Die Medienpädagogik hat immer zwei Strömungen in sich vereint; eine kulturkritisch-ablehenende Haltung gegenüber Medien und eine zustimmend-wohlwollende. (2) Medienpädagogik umfasst grundsätzlich alle Lern- und Lebensbereiche: nicht nur die Schule, sondern auch den außerschulischen Bereich, die Jugendbildung und Jugendarbeit, die Erwachsenen-, Weiter- und Fortbildung. (3) Medienpädagogik umfasst stets die handhabbaren Geräte zum Einsatz in Schulen, gedacht zur Effektivierung von organisierten Lernprozessen, und die öffentlich-institutionellen, privatwirtschaftlich oder öffentlich-rechtlich organisierten Massenmedien (Presse, Hörfunk und Fernsehen, Film). (4) Die einzige zentrale Produktionsstätte (mit starker Schulbezogenheit) für Medien für den Lern- und Bildungsbereich ist eine zentrale Einrichtung (FWU), die eine gewisse Kontinuität absicherte, während insbesondere der außerschulische Bereich weitgehend sich selbst überlassen blieb - zumindest bis zur Gründung des Kinder- und Jugendfilmzentrums in Remscheid (1977).

Die medienpädagogische Reflexion lag vor allem in der Hand von Didaktikern. Ob Friedrich Copei "Anschauung" über die sinnliche Wahrnehmung hinaus als "sinnerfassend" interpretierte, oder ob Christian Caselmann den Beitrag audiovisueller Medien in den drei Faktoren "begriffliche Klarheit", "Lebensnähe" und "Erlebnisstärke" sah - immer ging es um lern- und auffassungsbezogene Konzepte, entwickelt aus einer phänomenologisch orientierten, ganzheitlichen Gesamtsicht.

Medienpädagogische Forschung im neueren Sinn begann vor allem mit den Untersuchungen Martin Keilhackers, der einem ausdruckspsychologischen Ansatz verhaftet war und eine Filmpädagogik entwickelte, die das "Filmerleben" in den Mittelpunkt stellte. Erich Wasem, Werner Glogauer, Walter Tröger oder Horst Ruprecht, später Franz Zieris, Heinz Jürgen Ipfling oder Georg Wodraschke (Fernseherziehung); sie alle gehörten in der Keilhacker-Nachfolge zu einer stark auf den süddeutschen Raum zentrierten Schule.

Erst Ende der 60er Jahre, vor allem im Zusammenhang mit der kritischen Bewegung und nicht unbeeinflusst durch die Schüler- und Studentenrevolte, wurde zunehmend Kritik laut: an der zu stark wahrnehmungspsychologisch eingeengten, gruppenbezogenen Medienpädagogik, die die Einbindung der Medien in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge bisher geflissentlich übersehen hatte. Die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen verschärfte die Frage nach dem Zusammenhang von Medien und Gesellschaft. Medien wurden, sofern sie privatwirtschaftlich organisiert waren (Film, Presse), als Instrumente der Ausbreitung kapitalistischer Ideologien interpretiert, und unter Einbezug von Adornos aus Amerika gewonnenen kritschen Stellungnahmen wurde nun eine Medientheorie gefordert, die alle Inhalte ideologiekritisch unter die Lupe zu nehmen empfahl. Denn schließlich waren auch die öffentlich-rechtlichen Programme, eingebunden den in den "Verblendungszusammenhang" (ein Terminus von Adorno, der damals viel verwendet wurde), Instrumente der hegemonialen Kultur, um einen Ausdruck Gramscis zu verwenden. Man forderte nun eine Alternative, eine Gegen-Öffentlichkeit (Habermas, Negt/Kluge). Nun hieß es mit Adorno. "Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie". Kritische Medientheorie sollte der gesellschaftlichen Praxis in historischer Bewegung dienen; denn, so Dröge: Theorie ist "Praxisvorgabe aufgrund erfahrungsgeleiteter Bedingungsanalyse nur in dem Maße, wie sie aufgrund der sozialen Bewegungsmomente praktischen Bedürfnis wird." Man suchte nun mit Hilfe der Medien nach Möglichkeiten der Systemüberschreitung und wies auf Bruchstellen der Vermittlung der Konstitutionsmomente in Arbeit und sozialem Handeln hin. Damit sollte die theoretische Diskussion wieder Anschluss an die pädagogische Praxis gewinnen. Denn die gesuchten "Bruchstellen" lassen sich verstehen als solche Momente von Erfahrung, die durch den Widerspruch von Glückszusage und Versagung hindurchgehen (etwa: Versprechen der Werbung und Einlösungschancen; Deklamation von Partizipationschancen und tatsächlicher Handlungsspielraum) und sich, richtig angeleitet, auf Lösungen, Veränderungen, Innovationen hin auslegen.

3.

Diese gesellschaftliche Wende der Medienpädagogik mit stark kritischem Impuls verlor sich freilich in der Praxis schnell; der ideologiekritischen Analyse von Fernsehserien (beispielsweise) wurden die Schüler ebenso schnell müde wie schließlich Stimmen laut wurden, die darauf hinwiesen, dass sich auch in der plattesten Unterhaltung Ausdrucksmöglichkeiten von Glück sich darstellen können - man entdeckte das Bedürfnis der Medien-Rezipienten, gerade auch des jugendlichen. Mit fundamentaler Medienkritik kann nicht leben, wer sie ständig benutzt, und die Tatsache, dass Medien zum leitenden Freizeitinhalt wurden, konnte niemand übersehen. Statt bei der Medien-Kritik stehenzubleiben, suchte man nun nach Handlungschancen in der Hoffnung, auf diese Weise von der Analye zu einer allen mitteilbaren Praxis zu kommen. Aus solchen Überlegungen entstand das Konzept einer handlungsorientierten Medienpädagogik. Deren Leitlinien sind:

  1. Medien sind nicht nur Gegenstand kritisch-kognitiver Aufklärung (z.B. Bewahrung von Manipulationen), sondern auch Mittel des Handelns, und dies nicht nur für professionalisierte Kommunikatoren, Medien sind - in einer Variation einer Formulierung von Brecht in seiner Radiotheorie - nicht nur Rezeptions-, sondern auch Produktionsinstrumente, stellen Räume sozialen Handelns bereit.
  2. Alle Handlungen mit Medien müssen verstanden werden als nicht zufällig partikuläre Interaktionen. Der mit ihnen aufgebaute Handlungszusammenhang ist jeweils Bestandteil eines gesellschaftlichen Ganzen, beeinflusst das gesellschaftlicher Klima: zum Beispiel dadurch, dass Bürgergruppen Stadtteilzeitungen herausgeben. Videofilme produziert und manchmal auch im Fernsehen gezeigt werden, dass Kulturfestivals, Straßenfeste, Open-air-Konzerte stattfinden, in denen auch Medien - Wandzeitungen, Filme, Dias, Bilder, alle Formen elektronischer Verstärkung - eine zentrale Rolle spielen.
  3. Handlungsorientierte Medienpädagogik in einer modernen Gesellschaft wie der Bundesrepublik hat sich mit einem Bruch zu beschäftigen: Medien gibt es als Massen-Medien, als mächtige Institutionen mit professionellen "Machern". Es gibt sie aber auch als handhabbare Medien, mit denen Gruppen selbst etwas machen können (vom Fotoapparat über die Videokamera bis zu Wand-Graffiti). Medien stehen also sowohl der Interaktion in Gruppen wie der Massenkommunikation zur Verfügung.
  4. Der inzwischen wohl von allen Medienpädagogen, wenn auch zum Teil mit kritischer Distanz rezipierte Nutzen-Ansatz betrachtet den Rezipienten als prinzipiell aktives, informationsverarbeitendes, diese Informationen auf Handlung auslegendes Wesen. Insofern ist weder der Rezipient einer Nachrichtensendung "passiv" noch nur derjenige "aktiv", der einen Film dreht oder ein Hörspiel produziert. Menschen "nutzen" Medien aus unterschiedlichen Motivlagen heraus (Kompensation; Ausgleich von Resignation; Neugier auf Neues; Ausgleich von Stimmungen etc.); sie bedienen sich ihrer zu unterschiedlichen Zwecken - und sie bedienen sich unterschiedlicher Medien; Jugendliche beispielsweise nutzen nicht nur das Medium Fernsehen, sondern vor allem die auditiven Medien.
  5. Wenn Menschen Medien "nutzen", bedeutet dies aber nicht, dass Medien "nützlich "sind. Ein Beispiel sind die Vielseher: die Über-Nutzung von Medien (bspw. Mehr als vier Stunden Fernsehen am Tag) verdankt sich häufig sozialer Isolation und verstärkt diese noch. Damit entsteht ein circulus vitiosus.
  6. Aber die Medien sind nicht nur die "Verursacher" kommunikativer Problem-Lagen - sehr viel häufiger sind sie Symptom dafür. Es ist bekannt, dass isolierte Kinder häufiger fernsehen als solche, die in einem lebendig-sozialen familiären Kontext oder in Freundschaftsgruppen leben. Andere Vielseher-Gruppen finden sich unter Arbeitslosen, Alten oder Hausfrauen, die Hausarbeit nicht mehr ausfüllt. Übertriebene, nicht in die eigene Entwicklung oder das soziale Leben integrierbare Medien-Nutzung verdankt sich also sozialen Problemlagen. Diese können durch Medien aufgedeckt, vielleicht auch verstärkt und mit medienpädagogischer Hilfe erleichtert werden.

Es besteht kein Zweifel, dass die Prämissen einer handlungsorientierten Medienpädagogik nicht mehr hintergehbar sind. Sie verbindet kritische Impulse mit praktischen Absätzen; sie bezieht alle Bereiche sozialen Handelns und Lernens ein und gibt nicht nur einen interaktionstheoretischen "Überbau", sondern auch Impulse für praktische Projekte. Die vielen Video-Gruppen sind ein Beispiel für die Impulse, die von der handlungsorientierten Medienpädagogik ausgegangen sind. Sie allein öffnet auch den Zugang zu den neuen Entwicklungen, die inzwischen eingetreten sind. Denn:

4.

Die Medienpädagogik muss sich derzeit entschieden umorientieren und ganz neue Problemlagen ins Visier nehmen. Sie kann sich nicht auf den pädagogischen Einsatz von Medien in Lehr- Lernprozessen (Mediendidaktik) beschränken, auch nicht auf eine "Einführung in den rechten Umgang mit den Medien", und sie kann schließlich nicht bei medienkritischer Reflexion oder auch bei handlungsorientierten Ansätzen stehenbleiben, die sich meist auf das Medium Video konzentrieren. Denn es gibt neue Wachstumsbranchen, die die Szene entscheidend verändert haben, insbesondere in den letzten Jahren. Zu diesen Wachstumsbranchen gehören vor allem die neuen elektronischen Systeme der Informations- und Kommunikationsvermittlung. Diese neue Phase technischer Entwicklung, als "dritte industrielle Revulotion" bezeichnet, verändert das Kommunikationsfeld der Gesellschaft erheblich und in bisher noch nicht abschätzbarer Weise. Mit Hilfe neuer Basistechnologien (Mikroelektronik, Satellitentechnik/opitsche Nachrichtentechnik/neue Endgeräte) werden neue Formen des Informationsaustausches entwickelt. Statt spezialisierter Systeme (dedicated networks) werden integrierte Systeme entwickelt (IDN: IntegriertesDatenNetz). An die Stelle derzeitiger Endgeräte (Fernsehbildschirm, Fernschreiber, Telefon, Kopiergeräte), die jeweils Einzelgeräte mit eigenen Netzen, Leitungen und Leistungen darstellen, treten zunehmend komplexe Systeme mit erweitertem Funktionsumfang. Die Überführung bestehender Netze in ein Breitbandnetz (Kabel) ist im Gang. Dieses neue Breitbandnetz kann die heutigen Sprach-, Text- und Datendienste sowie alle Rundfunkverteildienste in sich aufnehmen. Auch Satelliten sind Bestandteil dieses Netzes.

Das hat Folgen: Wir werden nicht nur (1) eine Vielzahl von neuen Programm-Anbietern haben, eine Vervielfältigung der Rundfungangebote, und neben den öffentlich rechtlichen Anstalten werden private Anbieter stehen; sondern es verändern sich (2) auch die Arbeitsplätze von Menschen. Viele werden wegrationalisiert, eine begrenzte Anzahl kommt hinzu, darunter übrigens auch höherwertige. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze dezentral angeboten (z.B. für Frauen, die nun in Teilzeitarbeit am häuslichen Computer arbeiten können, ohne die Kinder zu vernachlässigen oder die Wohnung verlassen zu müssen). Ein Fortschritt an Bequemlichkeit und Familien-Zentrismus - aber möglicherweise auch ein Rückschritt in die Isolation und in begrenzte Handlungsmöglichkeiten. Aber auch (3) die öffenltiche Kommunikation des Alltags ändert sich, Bankautomaten, Fahrkartenschalter, amtliche Vordrucke und Anschreiben, im Schein individueller Anrede vorfabrizierte Briefe, Anreden und Werbetexte, die Chip-Card als überall einsetzbare indirektes Zahlungsmittel - dies alles muss bewältigt und verstanden werden. Vor allem, und dies ist das wichtigste: (4) in den neuen integrierten Netzen sind private Nutzung, berufliche Nutzung und öffentliche Nutzung zusammengeschaltet. Damit entfällt zukünftig die bisher strikt eingehaltene, die moderne Gesellschaft kennzeichnende Unterscheidung zwischen privatem, beruflichem und öffentlichem Lebensbereich. Am Computer-Terminal kann ich spielen, berufliche Informationen verarbeiten, Filme zur Entspannung sehen, Bankauszüge zur Kenntnis nehmen, Informationen für meine nächste Urlaubsreise anforedern, Kontakte zu Bekannten oder Berufskollegen aufnehmen. Die Daten über diese integrierte Nutzung können prinzipiell jederzeit öffentlich werden, zumal sie zu Abrechnungszwecken zumindest quantitativ verfügbar bleiben müssen. Die Bemühungen des Datenschutzes zeigen, dass die Vergesellschaftungsprozesse nun endgültig unser gesamtes Leben durchdringen: die traditionelle Kategorie der Privatheit gilt nicht mehr.

Angesichts dieser Entwicklungen erscheint die bisherige Medienpädagogik unzureichend ausgerüstet, zumal sie nur reagieren kann, denn die technischen Vorgaben, wirtschaftlichen Interessen und politischen Entscheidungen hat sie kaum mitbestimmen können. Damit wachsen ihr neue Aufgaben zu, die sie zu bestehen hat. Wenn Medien nicht nur aus Programm-Anbietern bestehen, sondern, zusammengeschaltet im Terminal, interaktive Dienste anbieten ebenso wie rezeptives Verhalten ermöglichen, das Berufsleben neu strukturieren wie das Privatleben und seinen Kontakt mit öffentlichen Aktionen beeinflussen (Lokalfunk), dann hat Medienpädagogik einen erheblich erweiterten Bezugsrahmen. Erst jetzt wird wirklich deutlich, was "gesellschaftlicher Bezug" wirklich heißt. Medienpädagogik, so wäre nun angesichts der neuen Situation zu definieren, umfaßt alle sozialpädagogischen, sozialpolitischen und sozialkulturellen Überlegungen und Maßnahmen wie Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die ihre kulturellen Interessen und Entfaltungsmöglichkeiten, ihre Wachstums- und Entwicklungschancen in Beruf, Freizeit und Familienleben sowie ihre politischen Ausdrucks- und Partizipationsmöglichkeiten betreffen. Dies alles wird heue stark beeinflusst und mitgestaltet durch expandierende Informations- und Kommunkationstechniken mit Wirkungen auf das Rezeptionsverhalten gegenüber Massenmedien, mit Wirkungen auf Arbeitsplätze, Arbeitsverhalten und Arbeitschancen; auf Handlungsmöglichkeiten im öffentlichen und privaten Leben. Medienpädagogik stellt daher diese Informations- und Kommunikationstechniken mit ihren sozialen und kulturellen Folgen in den Fokus ihrer Betrachtung. Ihre wissenschaftliche Absicherung und pädagogische Zuverlässigkeit bezieht sie aus der Zuständigkeit für diesen Fokus. Medienpädagogik hat es künftig nicht nur mit Lehr-Lern-Prozessen und entsprechenden Apparaturen, nicht mit traditionellen Massen-Medien allein zu tun; ihr Gebiet sind alle technischen Vorkehrungen, Information und Kommunikation, Erfahren und Erleben, Verhalten und Handeln zu organisieren, zu strukturieren und zu beeinflussen.

Das Aufgabenfeld der Medienpädagogik ist damit gewachsen - ohne damit unverbindlich zu sein. Es empfiehlt sich, um nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten und alles auf einmal lösen zu wollen, von kommunikativen Problemlagen auszugehen. Dies meint: die ersten Ansatzpunkte der Medienpädagogik müssen dort aufgesucht werden, wo kommunikationskulturelle Problemlagen offensichtlich sind. Beispiele dafür sind:

  • die Tatsache, dass es möglicherweise Gruppen von Menschen gibt, die die neuen Medien- Techniken produktiv für sich nutzen, aber auch andere, die dies nicht tun, sie vielmehr lediglich dazu benutzen, ihre ohnehin vorhandene Misere aushaltbar zu machen. Solche Überlegungen stehen im Rahmen der knowledge-gap-Hypothese, die behauptet, es gäbe eine wachsende Wissenskluft (zu ergänzen ist: auch emotionale Kluft und Handlungskluft) zwischen denen, die sich der neuen Medien-Techniken als Erweiterung ihrer Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten bedienen, und denen, die das alles nicht tun, vielmehr zu "Vielsehern" oder Eskapisten degenieren. Vor allem Haupt- und Sonderschüler, alleinstehende und alte Menschen, auch Arbeitslose gelten hier als gefährdet.
  • Wirklichkeit erfahren wir heute häufig weniger in direktem Handeln als über die Programme der Medien. Welche Wirklichkeitsbilder sind für uns leitend, und lassen sich Medien-Wirklichkeit und eigene Erfahrung überhaupt noch trennen im Bewusstsein? "Realitätsverlust" bedeutet heute, dass Erfahrungs-Möglichkeiten und Realitätswerte auf noch junge Menschen einströmen, die sie im eigenen Handeln und Denken nicht antizipieren können. Kann man damit überhaupt noch unterscheiden (im Rahmen der agenda-setting-Hypotheke) was Medien-Wirklichkeit, was eigene Erfahrung und tatsächliche Relevanzen betrifft, oder mündet inzwischen nicht alles in einen gleichmäßig fließenden Bewusstseinsstrom, den die Medienthemen bestimmen?
  • Die Vielzahl möglicher Optionen wächst nicht nur in den Programmen, sondern im gesamten Konsumsektor. Es gibt eine Fülle von Realitäts- und Informationsangeboten, mit denen umgegangen werden muss. Wie kann man mit dieser Angebotsfülle anhand begrenzter Ressourcen an Lebenszeit, Geld, persönlicher Betroffenheit und Verarbeitungsfähigkeit überhaupt umgehen?
  • Die Medien geben eine Fülle neuer Möglichkeiten der Beteiligung (offene Kanäle, Rückkanäle, viele Modelle von Partizipations-Sendungen). Aber auch hier gilt: ich kann mich nicht an allem beteiligen, ich muss begründet auswählen.
  • Es verschärft sich ein Orientierungsdilemma, das darin besteht, dass Arbeitswelt und Freizeitwelt, bestimmt durch Medien und Konsum, unterschiediche Verhaltensstandards und Grundhaltunen fordern. Pädagogische Einrichtungen und Berufswelt vertreten und verlangen Tugenden wie Selbstdisziplion, Leistungsstreben, soziale Verantwortung, rationale Beweisführung, moralische Autonomie, Ernsthaftigkeit der Lebensführung. Die Medien- und Konsumspähre fordert, auch enn die Inahlte es anders sagen könnten, andere Grundhaltungen; die Bereitschaft, Geld auszugeben. Augenblickshedonismus, Selbstaufgabe, Augenblicklichkeit, Narzissmus, Vorrang von Emotionalität, Beziehungsinteressen und Eros. Diese Orientierungsdilemma verdankt sich dem strukturellen Widerspruch, dass Arbeitsweilt und Daseinsvorsorge des Sozialstaates auf disziplinierende Tugenden angewiesen sind, während der Staat für das Funktionieren seiner Wirtschaft auch einer Unterstützung durch Binnenmärkte bedarf. Schon Jugendliche haben das Problem, in ihren Wertorientierungen ganz verschiedene Lebenswelten in ihren Widersprüchen und Brüchen auszuhalten. Damit stellen sich lebenspraktisch-ethische Probleme der Wertentscheidung darüber, welche Sinn-Angebote und Handlungsmöglichkeiten man mit welchen Gründen in sozialer Verantwortung und ohne Vernachlässigung der eigenen Interessen ausschlägt und annimmt.
  • Medien bieten einen großen Spielraum von Simulationen an: Ich kann nicht nur Kalkulationen am Computer durchchecken, sondern auch imaginieren, ich befinde mich im Cockpit eines Flugzeuges und steuere dies durch die Wolken, ich lenke ein Auto durch die Straßen, usf. Gerade Jugendliche sind von solchen Handlungsmöglichkeiten, die ihnen die Vertristung der Großstädte nimmt, fasziniert. Werden wir zukünftig in simulierten Umgebunen leben und eine neue Wirklichkeitskonzeption entwickeln?

Medienpädagogik muss in der Lage sein, solche und andere, vielleicht hier noch nicht genannte oder gesehen Probleme, aufzugreifen. Sie muss sich insofern befreien von einer gewissen pädagogischen Borniertheit, die nur auf organsierte Lern- und Bildungsprozesse sieht. Eine ganzheitliche Reflexion gesellschaftlicher Zustände kann allererst die Maßstäbe setzen, wo kommunkationskulturelle Problemlagen aufzugreifen und zu bearbeiten sind. Tröstlich ist, dass in vieler Hinsicht hier ein Konsens besteht.

5.

Dies zeigen auch die "Stuttgarter Tae der Medienpädagogik". Sie haben sich im Verlauf der Jahre zu einem wichtigen Kommunikations-Zentrum auf Zeit entwickelt. Die Medienpädagogik, die erst neuerdings in der "Gesellschaft für Medienpädagogi und Kommunikationskultur" ein bundesrepublikanisches Organisationszentrum zur Verfügung hat, überwindet dort am eindrücklichsten die diasporahafte Versprengtheit in unterschiedliche Handlungsräume, Konzeptionen, Theorien, Praxen und Einschätzungen. Es ist nicht nur zur Feier dieser Veranstaltung gesagt, dass sie in besonderer Weise stets medienpädagogische Gesichtspunkte in den Mittelpunkt gestellt hat und durch die Beteiligung unterschiedlicher Teilnehmer (von der Wissenschaft bis zur medienpädagogischen Praxis) immer wieder die mehrfach beschworenen "Bruchstellen" aufgedeckt hat, aber auch die Kommunikations-Kluft in der Medienpädagogik überbrücken hilft. Die zukünftigen, hier nur knapp skizzierten Aufgaben machen eine solche Veranstaltung sicher nicht überflüssig - im Gegenteil.

Quelle:

aus: Landeszentrale für politische Bildung / Arbeitskreis Medienpädagogik Baden-Württemberg: Medienpädagogik im Umbruch. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, S. 11-20.

Mit freundlicher Genehmigung von Ippazio Fracasso-Baacke